Eine Tradition: Jedes Mal, wenn das SZ-Magazin als Edition 46 erscheint, überschreitet auch diese Kolumne die Grenze des Gedruckten und begibt sich in den Raum der Kunst, wird selbst zur Kunst und wagt sich an eine Neudefinition dessen, was Kolumne im öffentlichen Raum heute noch sein will, soll und kann, ja, man möchte sagen: muss, wird und darf.
Schon der Beginn vor Jahrzehnten: ein zutiefst verstörender Paukenschlag. Hacke lebte eine Woche lang, von Freitag zu Freitag, auf genau dem Raum einer Magazinseite, dies in aller Öffentlichkeit, auf einem Rasen im Englischen Garten, den eigenen Körper zur Statue gestaltend, ein skulptural-skulpturesker, ja, geradezu skulpturöser Protest gegen die Enge des ihm zur Verfügung stehenden Platzes, heftig kontrastierend mit der Weite der umliegenden Wiese, ein anspielungsreicher Balanceakt und Spiel mit menschlichen Möglichkeiten – aber eben auch mit selbst oder nicht selbst verschuldeten Begrenzungen, letztlich ein viehischer, schier nicht mehr zu ertragender Anblick zumal in der zweiten Wochenhälfte – und doch zutiefst human. Die besten Physiotherapeuten Münchens arbeiteten eine Woche lang an der Remobilisierung des Hackeschen Körpers.
Schon ein Jahr später: ein gewaltiger Ausbruch. Hacke schüttete mit Hilfe von in langen Kolonnen anrückenden Lastwagen Tausende von in Beton gegossenen, jeweils einen Meter hohen Buchstaben vor das Redaktionsgebäude des SZ-Magazins, eine Aktion unter dem Titel Macht Euren Scheiß alleine / the weight of letters 98, roh in ihrer Formensprache, radikal im Vorgehen – und dann doch auch von erschütternder Zartheit, denn Hacke stellte sich selbst als nur einen Zentimeter hohe Plastikfigur neben diesem apokalyptischen Schriftgebirge dar.
Im Laufe der Jahre entfernte er sich in den jährlich wiederkehrenden Arbeiten vom leicht Zugänglichen und drang ins Unentschlüsselbare vor. Fotografierte er noch 1999 die Augen von Menschen beim Lesen seiner Texte und tapezierte mit den ins Riesenhafte vergrößerten Abzügen die Wände sämtlicher Münchner U-Bahn-Stationen, durchwanderte er 2007 nur mit einer Kolumne bekleidet Deutschland von der Zugspitze bis Glücksburg, so bestand Nothing and All 2009 nur noch aus einem Sammelsurium von Schlumpf-Figuren, Eckspannermappen, Salbeibonbons, kaputten Glühbirnen, verschüttetem Filterkaffeepulver und funkelnagelneuen Gucci-Schuhen, das er in einem verschlossenen Umzugskarton vor den Kölner Dom stellte. Und Wo soll’s denn hingehen? 2011: Da war bloß ein einzelner Sonnenblumenkern, den der Künstler mit Gummierstift auf einer billigen Silvesterrakete befestigte und in den Himmel schoss: »Ein Werk von kühner Betroffenheit, das in seiner assoziativ schillernden und doch zugleich zögerlichen Schäbigkeit zutiefst verunsichernd wirkt und Betrachter wie Nicht-Betrachter subversiv düpiert«, schrieb das Kunstmagazin Monopol, »ein Ereignis von radikal-ambivalenter Unklarheit, die Grenzen des Banalen so eigentümlich abschreitend wie energisch ertastend und doch auch zugleich dezidiert auslotend« das Kunstheft Art, »Preis auf Anfrage« der Artinvestor.
Aber Hacke wäre nicht Hacke, wäre er nicht den Erwartungen immer wieder voraus. Sein Werk für Nummer 46 ist voller Brüche, Wagnisse. Stellte er sich 2012 lediglich selbst als Kolumnist mit dem Goldhelm dar, ein unübersehbarer Verweis auf einen anderen Großen und ein Anspruch, an dem schwächere Charaktere längst zerbrochen wären, zumal Gerhard Richter persönlich dieses Bild kostenlos mit einer Gartenharke verwischte (»Ich war einfach dankbar für die Erlaubnis, dies zu dürfen«), so konfrontiert uns der große Monomane in diesem Jahr zugleich mit der Aktualität und seiner eigenen scheuen Unzugänglichkeit: Seine heutige Kolumne ist zwar geschrieben, wird aber an sowohl für Spione wie für das Publikum unerreichbarem Ort publiziert, der erste seiner Texte, der im Geheimen veröffentlicht wird, Aufschrei und Schweigen zugleich.
Illustration: Dirk Schmidt