Im Regal entdeckte ich ein altes Buch, Das neue Universum, Band 85 von 1968, da war ich zwölf. Jahr für Jahr erschienen damals diese Bände (seit 1880 schon, also weit vor meiner Zeit). Ich bekam den aktuellsten immer zu Weihnachten. In Band 85 gibt es Beiträge über Die Wunderläufer der Sierra Madre (mexikanische Indianer, die innerhalb von fünf Tagen 960 Kilometer weit laufen konnten), über die Begrünung von Wüsten und eine Schwarz-Weiß-Fotoreportage über die Umwälzungen in den Häfen der Welt durch die Einführung des Schiffscontainers. Ich liebte diese Bücher! Sie waren voller Sehnsucht nach der Ferne, gefüllt mit Bewunderung über die Vielfalt der Welt. Und sie strotzten vor Zukunftsglauben.
In Band 85 steht auch ein Aufsatz mit dem Titel Auf dem Weg ins Jahr 2000. Es heißt darin, dass es derzeit 3,5 Milliarden Menschen gebe, was viel zu viele seien. Aber es gebe Anzeichen, dass die Menschheit zur Besinnung komme, sodass die Zahl wohl nicht mehr steigen würde. (Heute sind es 7,63 Milliarden.) Auch die Ernährung der vorhandenen Bevölkerung stelle ein Problem dar, das man zum Beispiel durch neuartige Fangmethoden in der Fischerei lösen könne. Delfine würden etwa »die Rolle der Schäferhunde der Meere« übernehmen, »um Schwärme von Nutzfischen in die Netze der Fischer zu treiben«.
Auch werde es neue Nahrungsmittel geben, aus Erdöl hergestellt. Weitere Visionen: Küchen würden sich selbst reinigen, Anzüge im Schrank durch Ultraschall gesäubert. Wohnen werde man in unterirdischen Städten; für Paris seien 14 »Tiefenstockwerke« vorgesehen, Parks, Bahnhöfe, Straßen, Schulen: alles da. Millionen Menschen könnten gegebenenfalls Schutz vor einem Atomkrieg finden, der auch in diesem Text die alles überschattende Bedrohung war. Doch solle man sich, schrieb der Autor, »vor Augen halten, daß wir nicht hilflos dem einen oder anderen Schicksal ausgeliefert sind, sondern unsere Zukunft zum guten Teil selbst gestalten können. Nutzen wir die Möglichkeiten dafür nach Kräften – es wird sich lohnen!«
Könnte man heute noch so schreiben, oder? Nur mit einem anderen Gefühl vielleicht, einem dringlicheren erstens und zweitens dem, dass selbst gestalten etwas anderes bedeuten müsste, also nicht nur Technikvertrauen, sondern: Veränderung unserer Lebensweise. Seltsam übrigens, im Rückblick: dass man auch damals die Apokalypse im Kopf hatte, den Atomkrieg nämlich, eine äußerst reale, aber irgendwie auch immer verdrängte Gefahr.
Jedenfalls: Das neue Universum war für mich ein heller, zukunftsfroher Begleiter. Wahrscheinlich fand ich es deshalb so toll. Es ließ einen nie ohne Hoffnung zurück.
Übrigens stehen im Regal direkt daneben meine alten Erdkundebücher, Seydlitz hießen sie. Ich habe sie aufgehoben, weil Erdkunde mein Lieblingsfach war, neben Sport und Deutsch, und ich blättere heute noch manchmal zwischen Fotos lamaistischer Klostertempel im Himalaja, Plänen der Tam-Sam-Bahn in Ostafrika und Skizzen israelischer Siedlungen (»Siedlungen werden in Israel planmäßig angelegt. Links ein Kibbuz, rechts ein Moschaw«, das sei eine weniger strenge Form des Kollektivs).
In der FAZ lese ich die Zeile Steht die Erdkunde vor dem Aus? über einem Artikel, in dem der Verband Deutscher Schulgeographen beklagt, sein Fach werde in den Schulen in den Hintergrund gedrängt. Weniger als sechs Prozent zum Beispiel der hessischen Abiturienten hätten es bis zum Ende ihrer Schulzeit – und das, obwohl Politiker ständig von Nachhaltigkeit, Erderwärmung und Landflucht redeten. »Nahezu alle Konflikte auf der Erde haben geographische Ursachen«, wird Karl Walter Hoffmann, der Vorsitzende des Verbandes, zitiert. »Erdkunde ist das Kernfach des 21. Jahrhunderts.«
Volle Zustimmung von hier aus! Im Grunde müsste jeder Schultag mit einer Stunde Geographie beginnen, heute mehr denn je, na gut, der Friday nicht.