Falter oder Knüller?

Unser Kolumnist über die entscheidende Frage beim Geschenke-Auspacken und die neuesten Erkenntnisse aus der Knitterforschung.

Illustration: Dirk Schmidt

In diesen Weihnachtstagen sind viele von uns mit den Fragen belastet: Was werde ich, wenn der Heilige Abend zu Ende geht, mit dem Papier tun, in das meine Geschenke gewickelt waren? Werde ich es sorgfältig zusammenlegen und für Geschenke an andere aufbewahren? Soll ich es dann, vor der neuen Verwendung also, bügeln oder gar mangeln wie Großmutter ihre Laken? Oder soll ich lieber Gier und Lust folgen, das Geschenkpapier aufreißen und zerfetzen, wie mir gerade zumute ist, es danach achtlos knautschen und auf einen Haufen in der Wohnzimmerecke werfen?

Auf den Punkt gebracht: Bin ich Falter oder Knüller?

Zweifellos haben die Falter anscheinend die besseren Argumente. Sie bewahren die Schöpfung in ihrer Papiergestalt, sie achten das Prinzip der Nachhaltigkeit.

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Gibt es aber auch gute Gründe zugunsten der Knüller?

Vielleicht sollten wir zunächst ein Blatt Papier knüllen und es dann betrachten: eine schrundig-runde Form ist da entstanden, unverkennbar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem menschlichen Gehirn. Ist es möglich, dass unser Denkapparat auf ähnliche Weise entstanden ist? Dass ein müder, verärgerter, von eigenen Einfällen enttäuschter Gott einst eine Idee in seiner Werkstatt zerknüllte und wegwarf – und dass ein Assistent dann dachte: Okay, muss weg, aber hier, im Kopf des Entwurfs Mensch ist noch Platz, stopfen wir es halt dort hinein? Ist es also möglich, dass wir beim Papierknautschen unwillkürlich, ohne es zu wissen und zu wollen, Gott auf der Spur sind?

Nun schnappen wir uns einen weiteren Bogen, knüllen erneut und lauschen dabei auf die entstehenden Geräusche: ein Knacken, Rauschen, Knistern. Mikko Alava von der Universität Helsinki hat vor Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass man hier eine starke Analogie zu den Geräuschen von Erdbeben finde: Zeichne man das Grollen aller Beben des Globus’ eines Jahres auf und spiele es im Zeitraffer ab, höre man einige laute Kracher, viel mittleres Poltern und sehr viel Gegrummel, »eine zufällige Serie unterschiedlich lauter Töne«, wie auch James Sethna von der Cornell University fand, als er dem Papier zuhörte.

Möglicherweise ist sogar unsere Erde Ergebnis eines Knüllvorgangs…?

Nun falten wir die Papiere wieder auseinander und streichen sie glatt.

Wir erkennen eine Landschaft aus Fältelungen und Rissen, langen Gräben, scharfen Graten, geschwungenen Tälern. Übrigens macht es einen Unterschied aus, ob wir ein Blatt Papier auffahrend-wütend zusammenknautschen oder es nachdenklich zu einem Ball formen und dann, mit der Hand ge­glättet, neu betrachten: Das Wutresultat ist deutlich weniger vielfältig, es mangelt ihm an Differenziertheit und Abwechslungsreichtum – man sieht ihm eine gewisse Oberflächlichkeit der emotionalen Energie an, ver­glichen mit der Intensität der langsamen, bedachten Quetschung.

In jedem Fall ist Knitterpapier gespeichertes Gefühl, nicht wahr?

Omer Gottesman, der an der Universität Harvard dieses Thema erforscht, hat mittels aufwendiger Computeranalysen festgestellt, dass kein geknautschter Bogen in seiner Narbenstruktur dem anderen ähnelt: Der Knüller schafft in jedem Fall etwas Einzig­artiges, nie Dagewesenes. Die ausführliche Geschichte der Knitterdynamik, so Gottesman, sei quasi in der jeweiligen Faltenlandschaft archiviert. Messe man aber die Länge der dabei entstandenen Falten und vergleiche sie mit anderen Papieren, so bewege sich das Resultat immer in demselben Bereich, im Prinzip sei sie immer gleich. Gottesman: Die Krumpeltätigkeit sei ein Lehrbeispiel für andere komplexe Vorgänge. Wer sich mit ihrer Kompliziertheit beschäftige, könne daraus für andere zunächst kaum überschaubare Vorgänge in der Natur lernen. Mög­licherweise finde man Gesetzmäßigkeiten des Chaos heraus.

Möchte noch jemand im Ernst sein Weihnachtspapier falten?