Nachdem sich Deutschland über Thomas de Maizières Thesenkatalog zur deutschen Leitkultur gefreut oder aufgeregt hatte (je nach Einstellung), habe ich mir die Bild am Sonntag geschnappt und den Text gründlich gelesen. Seltsamerweise sind mir dabei Dinge aufgefallen, von denen in der Debatte kaum die Rede war, die Formulierung zum Beispiel, bei der Eröffnung eines großen Konzerthauses in Deutschland seien stets der Bundespräsident sowie Vertreter aus Regierung, Parlament, Rechtsprechung und Gesellschaft »vor Ort«.
»Vor Ort«, das geht nicht, hätte mein Lehrer in der Journalistenschule gesagt, das sei Bergmannssprache, der »Ort« sei die Stelle, bis zu der man sich im Stollen vorgearbeitet habe, »vor Ort« gehöre unter die Erde, da solle es bleiben. »Bundespräsident« und »vor Ort« in einem Satz bitte nur, wenn der erste Mann im Staat ein Bergwerk besichtige!
Bis heute habe ich nie wieder »vor Ort« geschrieben. Ist aber nur eine Marotte von mir.
De Maizière schrieb das in der Begründung seiner fünften These, deren erster Satz lautet: »Wir sind Kulturnation.«
Fehlt da nicht was?
Wir sind die Kulturnation? Das geht natürlich nicht. Wir sind eine Kulturnation? Schon besser, aber der Minister hat es nicht geschrieben – warum nicht? Wollte er sich stilistisch dem Ort seiner Publikation anpassen? (In Bild stand ja einst die legendäre Schlagzeile: »Wir sind Papst.«) Das kann nicht sein, denn in »Wir sind Papst« fehlt nichts, es ist grammatisch fast so einwandfrei wie »Wir sind Weltmeister« oder »Ich bin Oberverwaltungsdirektor«, und soweit es nicht einwandfrei ist, haben wir es mit ebenjenem kleinen Sprachknick zu tun, der den Satz unvergesslich macht.
Was hätte man auch sonst schreiben sollen? Wir sind Päpste? Wir sind der Papst? Ein Papst?
Bei »Wir sind Kulturnation« stellen sich andere Assoziationen ein, die Frage »Kann Schulz Kanzler?« zum Beispiel, die ich auf der Internetseite der Tagesschau entdeckte und die wohl weniger bedeuten soll »Kann Martin Schulz tatsächlich Bundeskanzler werden?« als: »Hat Martin Schulz die Fähigkeit, das Amt eines Bundeskanzlers auszuüben?«
Das ist zu lang für eine Überschrift. So handelt es sich hier um jenes Quetschdeutsch, das aus Prominenten »Promis« macht, manche Leute können gar nicht mehr anders reden.
Aber »Wir sind Kulturnation« ist keine Überschrift, es ist wirklich ein Satz, der erste Satz der fünften de Maizière’schen These, wie gesagt. Interessanterweise erinnert er an ein anderes Sprachphänomen, jenes nämlich, das wir in Knappsätzen ganz anderer Provenienz finden.
Ich bin Aldi. Bist du noch Büro? Ich komme später Kino.
Machstu rote Ampel?
Das sogenannte Kiezdeutsch hat viel damit zu tun, dass es im Türkischen kaum Präpositionen und Artikel gibt, sodass der Türkei entstammende Deutschsprecher sie auch weglassen, eine, wie ich finde, reizvolle und witzige Variante des Deutschen, die aber konservative Sprachschützer bis aufs Blut reizen kann.
Umso schöner ist es, dass unser Innenminister in seiner Leitkultur-Predigt sich so ausdrückt, dies gewiss nicht nur aus Versehen, denn schon in seiner ersten These hatte de Maizière gesagt: »Wir sind nicht Burka.« Das war eine kleine Lektion in Staatsburkakunde für jene, die schon einmal mit dem Gedanken gespielt haben, hier Burka sein zu können oder »Isch mach disch Burka« sagen zu können.
Sind wir nicht alle ein bisschen Burka? Nicht bei uns!
Anders gesagt: Ohne einen gewissen sprachlichen Migrationshintergrund hätte der Minister sich nie so knapp und verständlich ausdrücken können, wie es ihm hier gelang.
Wir sind nicht Burka. Wir sind Kulturnation.
In diesem Sinne: Lassma so offene Gesellschaft machen, vor Ort meinetwegen!
Illustration: Dirk Schmidt