In der Rede Angela Merkels zum 70. Gründungstag der CDU fiel mir eine Formulierung auf, die nicht mehr aus meinem Kopf geht. Als die Kanzlerin Wolfgang Schäuble für seine geduldige Suche nach einem Kompromiss mit den griechischen Verhandlungspartnern lobte, sprach sie von den »Stunden und Aberstunden«, die Schäuble in diesen Gesprächen verbracht habe.
Nun ist die Stunde ein nur zu geläufiger Begriff. Jedoch: die Aberstunde? Wer von uns hätte je irgendwo irgendwann eine Aberstunde verbracht? Viele leisten Überstunden, auch ist manchem der Aberglaube nicht fremd – doch die Aberstunde? Hätte Merkel von Hunderten und Aberhunderten von Stunden sprechen wollen, in denen Schäuble verhandelte, hätte sie das gesagt. Doch tat sie es nicht.
Den Belesenen ist die Aberstunde aus gleich mehreren Büchern Oskar Maria Grafs geläufig, denn sowohl in Gelächter von außen als auch in Wir sind Gefangene verwendet er die Formulierung von den »Stunden und Aberstunden«, in denen dies und jenes passiert. Doch geschieht dies beiläufig und nicht in dieser Abgründigkeit, ja, aus diesem tiefen WISSEN heraus, das man in Merkels Worten spürt. Denn es scheint doch hier, auf dem Weg von der Stunde zur Aberstunde, der Mensch sich vom Zeitlichen ins Außerzeitliche zu bewegen.
Verhält sich vielleicht die Stunde zur Aberstunde wie der Witz zum Aberwitz?
Merkel hat nicht zum ersten Mal in dieser Weise gesprochen. Bereits vor zehn Jahren, als sie der Partei die Verhandlungsergebnisse zur Bildung ihrer ersten Großen Koalition präsentierte, benutzte sie gleich doppelt diese Formulierung; sie erbat »Ehrfurcht auch vor denjenigen, die Stunden und Aberstunden überlegt haben, wie sie Deutschland nach vorne bringen«, ja, Ronald Pofalla habe mehr als fünfzig »davon« (wovon? Stunden? Aberstunden?) »mit den anderen« verbracht.
So scheint die Aberstunde etwas Politisches zu sein – und im Politischen wiederum etwas Mystisches, das zu erleben nur denen vorbehalten ist, die sich der Politik in einer Weise hingeben, dass sie ihnen Erlebnisse schenkt, die ansonsten nur einem Yogi oder gerade noch Reinhold Messner in den besten Jahren vorbehalten sind oder waren. Mag sein, dass die Aberstunde das politische Äquivalent zur Geisterstunde ist: Man ist in ihr in der Lage, etwas zu erkennen, was sich in den bloßen Stunden unseres banalen Alltags in kläglicher Wachheit nicht zu erkennen gibt.
Schon immer habe ich mich gefragt, wie Menschen dieses Zerrinnen des Lebens in nächtlichen Sitzungen ertragen, dieses Versickern aller Lebensfrische zwischen Papieren und Paragrafen, diese ewige Schlaflosigkeit zwischen Abend und Morgen. Doch muss es dort, wohin wir nie vordringen werden, weil wir gewöhnliche Wonnen wie den Schlaf, den Sex oder beides vorziehen, eine Ekstase geben: nur denen vorbehalten, die ihr Leben dem Politischen zu weihen bereit sind.
Dort nämlich, wo die Stunde langsam zur Überstunde wird, dann aber eine Kette von Überstunden sich bildet, wo über dunklen Schuldensümpfen die Pleitegeier hungrig kreisen und angesichts belegter Semmeln und leerer Kaffeetassen der Blick des Verhandlungspartners sich trübt, wo das Auge so manchen Eurogruppenchefs zunächst bloß flackert und schließlich zu brechen scheint, wo die letzte Stundung des allerletzten Umschuldungskredites längst vorbei ist, die Zeit nur noch wie Sirup fließt und sich dem Stehenbleiben nähert, wo man wähnt, als ob es tausend Schuldenberge gäbe und hinter tausend Schuldenbergen keine Welt ...
Dort also naht, nach aller Ermüdung, Übermüdung und Überermüdung, die Aberstunde, in der selbst aus einem Schäuble ein Aberschäuble wird, aus jedem Griechen ein Abergrieche und aus jeder Milliarde eine Abermilliarde: ein Moment des Gleißens und der Entgrenzung? Der Rausch des Kompromisses? Oder ein Taumel über ungeahnten Abgründen?
Illustration: Dirk Schmidt