Wie ein verschlafenes Fischerdorf an der Côte d’Azur dazu kam, zum Inbegriff von Glamour, Filmkunst und Medientrubel zu werden, lässt sich nicht mehr ohne Weiteres rekonstruieren. Sicher ist aber dies: Die Grundidee – die schönsten und bekanntesten Gesichter der Welt mit einem Filmfestival anzulocken und dann vor Strandkulisse abzulichten – wurde woanders erfunden. Sie stammt von einem Hotelier in Venedig, der die Badesaison am Lido verlängern wollte, und genau deswegen findet in Cannes auch nicht das älteste Filmfestival statt, sondern nur das berühmteste. Es wurde in dem Moment nötig, als Venedig unter den Einfluss faschistischer Politik geriet und die Franzosen und Amerikaner eine Gegenveranstaltung brauchten, um die Unabhängigkeit der Kunst (oder doch zumindest der Filmwirtschaft) hochzuhalten. Diese fand dann, kriegsbedingt, erstmals im Jahr 1946 statt.Der Geniestreich lag damals in der Wahl des Ortes. In Venedig schaut man zwar auch aufs Meer, hat aber den Markusplatz, die Palazzi und den Trubel der Stadt unsichtbar im Rücken und deshalb immer das Gefühl, das eigentliche Leben zu verpassen. Das Halbrund der Berge von Cannes dagegen bildet ein riesiges natürliches Amphitheater, in dem jeder Aussichtspunkt auf die azurblaue Bucht ausgerichtet ist, den Hafen, die Strandpromenade – und dort auf jenen gewaltigen Betonbunker, der »Palais du Festival« genannt wird und nicht nur das Filmfest beherbergt, sondern auch alle anderen Messen und Veranstaltungen. Die Körper am Strand, die Stars auf den berühmten roten Treppenstufen, die Produzenten auf ihren Booten – hier sind sie der Fluchtpunkt jedes Blicks, auch wenn man meistens zu weit weg ist, um Details zu erkennen. Diese ergänzt man im Kopf: So wird jede Yacht in der Bucht schon bald zu einem Traumschiff, bevölkert von Göttern und Pornostarlets zugleich, die endlose Partys feiern und dann Richtung Sonnenuntergang davonsegeln.Cannes erzeugt den letztlich unerfüllbaren Wunsch, näher heranzukommen. Wenn die Stadt jedes Jahr im Mai von 70000 Menschen auf 200000 anwächst, wollen die meisten Besucher nur eines: das alles einmal mit eigenen Augen sehen. Die Imageverkäufer der Welt suchen die Chance, ihren Produkten einmal leibhaftig die Hand zu schütteln; die Fotografen und Kameramänner prügeln sich darum, endlich ihre eigenen Aufnahmen zu machen; und die Mädchen in den dünnen Abendkleidern, die Jungs in den strammen T-Shirts würden ihre Körper gegen die Körper ihrer Idole stellen, ein Direktvergleich übers Absperrgitter hinweg. Das Komische ist nur: Die Distanz bleibt. Arnold Schwarzenegger sieht in dem Moment, in dem man ihm auf seiner Yacht die Hand schüttelt, immer noch unwirklich aus: das Gesicht maskenhaft, die Haut gummiartig, wie über ein Stahlskelett gespannt. Und wenn einem im Geschiebe eines Partyzelts plötzlich die bezaubernde Salma Hayek gegen die Brust gedrückt wird, kann die Distanz zwar nicht mehr geringer werden, real wirkt die Schauspielerin darum aber trotzdem noch nicht.Die Realität von Cannes liegt nicht in den Bildern oder Begegnungen und auch nicht in den Exzessen von Hype, Gier und Geschäft. Sie liegt in der fundamentalen Behauptung, hier würden tatsächlich die besten Filme der Welt gezeigt – und in der Bereitschaft der Welt, das auch zu glauben. Filmemacher und Kritiker beklagen zwar jedes Jahr wieder die haarsträubende französische Arroganz, mit der das Festival eine winzige Gruppe von Regisseuren zur »Familie« erklärt, zu den einzig relevanten Filmkünstlern überhaupt – aber gleichzeitig schafft es niemand, diese Deutungshoheit zu brechen. Die globale Sichtbarkeit einer Präsenz an der Côte d’Azur kann von der lokalen Unsichtbarkeit eines Films, der in einem Festivalkino gezeigt und am Ende vielleicht von ein paar hundert Kritikern ausgebuht wird, nicht widerlegt werden. Und am Ende will das auch niemand: Denn ohne den strengen Mythos der »Compétition«, wo angeblich die Besten der Besten gegeneinander antreten, würde das ganze Prinzip zerplatzen wie eine gigantische Blase aus Champagner, Silikon und Sonnencreme.