Kate McCann

Alle denkbaren Szenarien, die im Fall der verschwundenen Madeleine McCann noch eintreffen können, sehen gleichermaßen unwahrscheinlich aus. Es würde an ein Wunder grenzen, sollte das Mädchen lebend gefunden werden. Aber noch viel unglaublicher scheint die Vorstellung, ihre Eltern könnten die Ermittler tatsächlich über Monate hinweg belogen haben. Nur eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Die globale Aufmerksamkeit, die sich am Anfang auf das allgegenwärtige Foto der vierjährigen Engländerin mit den großen, unverwechselbaren Augen richtete, hat sich jetzt auf das nicht weniger eindrucksvolle Gesicht ihrer Mutter verlagert. Jedes der immer neuen Fotos von Kate McCann, 39, erscheint wie eine Allegorie des Schmerzes, des Überlebenswillens, vielleicht auch der Schuld. Die Welt taxiert dieses Gesicht, als könne allein darin schon eine Antwort liegen. Und die Art, wie Kate McCann auf die Welt zurückblickt, umgibt sie mit einer Aura des Heroischen.

Es ist ohne Zweifel ein schönes Gesicht. Diese scharf geschnittene Nase, diese hohen Wangenknochen, dieser durchdringende Blick. Der ungeheure Druck, der auf der Frau lastet, bringt das paradoxerweise noch mehr zum Ausdruck: Sie scheint von Tag zu Tag fotogener zu werden. Dieses Gesicht steht auch nicht länger nur für sich selbst. Auf einem Foto aus früheren Tagen, das Kate, ihren Mann Gerry und ihre drei Kinder noch glücklich vereint zeigt, meint man schon eine innere Anspannung, ja Entschlossenheit herauszulesen und eine milde Form der Ausgezehrtheit, die signalisiert, dass sich hier jemand für seine Familie aufreibt. Es ist schon beinahe das universale Gesicht der späten Mutterschaft in der westlichen Industriegesellschaft: verantwortungsvoll, manchmal übervorsichtig, gestresst – und doch sehr um das äußere Erscheinungsbild bemüht. In früheren Generationen, als die Frauen im Durchschnitt beim Kinderkriegen noch jünger, naiver und womöglich unbesorgter waren, haben sich die Spuren der Mutterschaft noch nicht so deutlich in ihren Gesichtern eingegraben.

Schon das normale Dasein der Kate McCann, die mit drei Kindern ihrem Beruf als Ärztin nachging, schien äußerste Konzentration zu verlangen. All das zeigt dieses Gesicht noch immer, nun aber ins Ikonische übersteigert. Die Urangst, vielleicht nicht aufmerksam genug zu sein, das Kind im falschen Augenblick allein zu lassen, Gefahren nicht zu erkennen, treibt alle Eltern um. Und Mütter sind noch einmal anfälliger für das Gefühl, vor eigenen oder gesellschaftlichen, vielleicht auch nur imaginären Ansprüchen zu versagen. Das sehen wir in Kate McCann, die ja gerade so überhaupt nicht leichtsinnig wirkt, gespiegelt.

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Doch die Qualen und Selbstvorwürfe, die sich hinter dieser wiedererkennbaren Emotion verbergen, übersteigen jedes Vorstellungsvermögen. Was schon für den Fall gilt, dass die McCanns die Wahrheit sagen. Und erst recht für die andere Möglichkeit: dass sie lügen und die kleine Madeleine am Ende selbst verschwinden ließen. Ein solches Geheimnis zu haben und vor den Papst und vor die Medien der Welt zu treten, Tag für Tag in Kameras zu blicken, die auf jedes Zeichen und jede Unstimmigkeit nur lauern – müssten unter dieser Anstrengung nicht selbst Titanen zusammenbrechen?

Man kann Kate McCanns Gesicht also nicht ansehen und keine Meinung dazu haben. Es fordert eine Entscheidung heraus. Entweder müssen wir weiterhin glauben, dass Kate die universale Mutter der Gegenwart ist, die schon immer schwer an ihrer Verantwortung trug – und ihr Schicksal also als Beweis ansehen, dass die kleinste Unaufmerksamkeit, das bescheidenste Glas in der Tapasbar nebenan sich eben doch auf grausamste Weise rächen kann. Oder wir halten sie für die Frau mit der Überdosis Schlafmittel, für eine der größten Lügnerinnen der Geschichte. Es steht sogar die Möglichkeit im Raum, dass wir die Wahrheit nie mit Sicherheit erfahren werden. Irgendwie übermenschlich bleibt Kate McCann in jedem Fall.