Seine erste Restaurantkritik schrieb Jürgen Dollase mit 51. Vorher gehörte er der Artrock-Band Wallenstein an, schaffte es mit einem Song bis auf Platz 17 der deutschen Charts. Die Neue Deutsche Welle ertränkte den Erfolg der Band. »Gesundheitlich war ich auch nicht übermäßig gut in Form: zu viel Alkohol und jeden Tag drei Schachteln Roth-Händle. Ernährt habe ich mich von Wiener Schnitzeln, Frikadellen und Hamburgern. Als ich kaum noch die Treppen hochkam, sagte mein Internist: ›Für einen Siebzigjährigen sind Sie in ziemlich guter Verfassung.‹ Ich war aber erst Anfang dreißig.«
Heute, mit 67, ist Dollase Deutschlands bester und einflussreichster Restaurantkritiker. Seine Liebe zur Spitzenküche entfachte erst seine Frau, die ihn heute zu jedem Testessen begleitet; Dollase selbst nennt den Prozess ›kulinarische Menschwerdung‹. »In den ersten Jahren schaute sie mir beim Fast-Food-Essen noch kommentarlos zu und schwieg, wenn ich Garnelen als ekliges Gewürm beschimpfte. Als wir dann aber Anfang der Achtziger in Ostende an den Fischrestaurants im Hafen entlangliefen und ich mich weigerte, in eins der Lokale einzukehren, fing sie plötzlich an zu weinen. Von diesem Moment an war mir mein verklemmtes Essverhalten unglaublich peinlich.«
Seine Ausbildung verlief im Selbststudium - Abend für Abend für Abend. »Wir hörten mit dem Rauchen auf und steckten das eingesparte Geld in Fünf-Mark-Stücken in eine Sparbüchse. Mit diesem Etat besuchten wir Restaurants mit zwei oder drei Michelin-Sternen oder mindestens 18 Punkten im Gault-Millau. Am Ende des Essens hatten wir oft das Gefühl, Geld rausgeschmissen zu haben, ich wäre aber nie darauf gekommen, unseren Ärger zu Papier zu bringen.«
Dies änderte sich rasch. In seinem Urteil über seine Kollegen ist Jürgen Dollase nicht wesentlich milder. »Die meisten Tester sind Schaumschläger, die irgendwelchen Unsinn schreiben, weil ihnen der professionelle Unterbau fehlt. Ihre Sachkenntnis über das Kochen ist armselig. Ein Kritiker meckert nicht rum, sondern macht transparent, was vor ihm auf dem Teller liegt. Wenn man aus eigener Praxis weiß, wie einfach es ist, das Publikum mit Effekten zu beeindrucken, verliert man den bewundernden Laienblick auf eher mittelprächtige Leistungen. Von einigen Zusammenhängen verstehe ich mehr als der Koch selbst. Das ist normal. Ein Künstler ist auch nicht gehalten, sein Werk zu begreifen. Ein Ornithologe weiß mehr über Vögel als ein Vogel.«
Eine seiner wichtigsten Grundregeln: »Beim Akt des Essens schweigen wir. Da ist die Konzentration zu hundert Prozent auf die Gabel gerichtet. Wer beim Essen schnattert, der kann auch Pappe essen.«
Foto: Julia Sellmann