Aussage gegen Aussage

Vor 166 Tagen verschwand Madeleine McCann aus einer portugiesischen Ferienanlage. Seitdem reden alle durcheinander: ratlose Polizisten, Zeugen, Nachbarn – und Maddies verzweifelte Eltern, die unter Mordverdacht stehen. Irgendwo in diesem Stimmengewirr muss die Wahrheit verborgen sein. Versuch einer Ordnung.

Seit einem halben Jahr fahndet die portugiesische Polizei nach der verschwundenen Madeleine McCann. Erst vermuteten die Ermittler, ein internationaler Pädophilenring habe das Mädchen aus der Ferienanlage in Praia da Luz verschleppt. Dann wurde der britische Immobilienmakler Robert Murat verdächtigt. Inzwischen stehen die Eltern Kate und Gerry McCann im Zentrum der Ermittlungen. Im Mietwagen der McCanns wurden DNA-Spuren entdeckt und an der Jeans der Mutter Leichengeruch. Doch die Indizien hielten einer näheren Überprüfung nicht stand. Aus dem Umfeld der Polizei heißt es, die Eltern seien mit der Erziehung Madeleines überfordert gewesen und hätten sie deshalb getötet. Das Mädchen sei an einer Überdosis Schlafmitteln gestorben, ein Unfall, lautet eine andere Version. Die Eltern würden sich nun gegenseitig decken, um nicht das Sorgerecht für ihre Zwillinge Sean und Amelie zu verlieren. Doch Beweise für die Theorien kann die Polizei nicht liefern. Selbst winzige Nebenaspekte in diesem Fall erscheinen heute als Rätsel, etwa die Frage, wie viele Flaschen Wein die McCanns und ihre Freunde am Abend von Madeleines Verschwinden tranken: Ein Zeuge berichtet von vier, ein anderer von mindestens sechs, der dritte gar von 14 Flaschen. Stellt man alle Aussagen – der McCanns, ihrer Freunde, der Zeugen, der Polizei – der letzten sechs Monate gegenüber, drängt sich der Schluss auf, dass der aufsehenerregendste Fall der Kriminalgeschichte wohl niemals gelöst werden wird.

Das Verhältnis der Eltern zu Madeleine
Mark Williams-Thomas, Privatdetektiv, der den Fall »Maddie« für das britische Fernsehen verfolgt: »Der portugiesische Staatsanwalt verlangt Kates Krankenakte, um zu erfahren, ob sie früher an einer Depression litt. Dies könnte darauf hinweisen, warum sie Madeleine umgebracht hat. Angeblich soll Kate mit der Erziehung Madeleines überfordert gewesen sein, weil das Kind ein Schreibaby war und sehr viel Aufmerksamkeit benötigte.« Kate McCann, Madeleines Mutter: »Ich trage ein aufklappbares Medaillon um den Hals, innen befindet sich Madeleines Foto und die Bedeutung ihres Namens, ›Turm der Stärke‹, ist eingraviert. Ein Freund hat es mir geschenkt. Madeleine war immer mein ›Turm der Stärke‹. Wir werden niemals aufgeben, nach ihr zu suchen.«

Brian Davinson, Rentner, der in Rothley neben den McCanns wohnt: »Meine Frau und ich vermissen das Freudengebrüll der McCann-Kinder im Garten. Ich kann mich noch erinnern, wie Gerry im April die Kinder in den Garten gerufen hat, um ihnen die neue Schaukel zu zeigen, die er für sie aufgebaut hatte. Madeleine war die Erste, die auf den Sitz gesprungen ist. Es ist so seltsam ruhig hier seit Mai.«

Meistgelesen diese Woche:

Joe Corner, Madeleines Patenonkel: »Kate und Gerry haben jahrelang versucht, Kinder zu bekommen. Aber erst eine künstliche Befruchtung brachte den gewünschten Erfolg. Madeleine und die Zwillinge Sean und Amelie waren die Erfüllung ihrer Träume. Wieso sollten sie das alles zerstören?«

Christian Lüdke, Kriminalpsychologe, in der Tageszeitung »Die Welt«: »Ein Kind, das durch künstliche Befruchtung gezeugt wurde, kann zu Problemen in der Partnerschaft führen. Vielleicht wurden diese Probleme über Jahre nicht offen angesprochen und haben sich angestaut. Vielleicht kam es bei Kate McCann zu einer Gefühlseruption und das Kind musste deshalb sterben.«

Das Bibelzitat
Samuel II, Kapitel 12, Verse 15–19, das Zitat, das Kate McCann angeblich häufig gelesen hat: »Dann ging Natan nach Hause. Der Herr aber ließ das Kind, das die Frau des Urija dem David geboren hatte, schwer krank werden. David suchte Gott wegen des Knaben auf und fastete streng; und wenn er heimkam, legte er sich bei Nacht auf die bloße Erde. Die Ältesten seines Hauses kamen zu ihm, um ihn dazu zu bewegen, von der Erde aufzustehen. Er aber wollte nicht und aß auch nicht mit ihnen. Am siebten Tag aber starb das Kind. Davids Diener fürchteten sich, ihm mitzuteilen, dass das Kind tot war; denn sie sagten: Wir haben ihm zugeredet, als das Kind noch am Leben war; er aber hat nicht auf uns gehört. Wie können wir ihm jetzt sagen: Das Kind ist tot? Er würde ein Unheil anrichten. David jedoch sah, dass seine Diener miteinander flüsterten, und merkte daran, dass das Kind tot war. Er fragte seine Diener: Ist das Kind tot? Sie antworteten: Ja, es ist tot.«

Ein portugiesischer Ermittler, Anfang September in der Zeitung »Diário de Notícias«: »Die Seite in der Bibel von Frau McCann ist stark zerknittert. Das weist darauf hin, dass Frau McCann diese Seite intensiv gelesen hat. Wenn man sich den Inhalt der Passage ansieht, fallen gleich mehrere Parallelen zum Fall auf:
1. Madeleine litt – soweit wir wissen – an einer Kolik, das heißt, das Kind war krank. 2. In den Versen geht es augenscheinlich um den Tod eines Kindes; und 3. geht es um die Art, wie man diese Nachricht dem Vater übermittelt. Soll das alles ein purer Zufall sein?«

Kate McCann: »Eine Seite aus meiner privaten Bibel, die zerknittert ist und ein Eselsohr hat, soll beweisen, dass ich Madeleine etwas angetan habe? Mein Glaube wird immer wieder schmerzhaft auf eine Prüfung gestellt.«

Papst Benedikt XVI. während eines Besuchs der McCanns im Vatikan: »Halten Sie weiter an Ihrem Glauben fest, das wird Ihnen Mut und Kraft geben.« (Der Vatikan ließ die Fotos der Begegnung des Papstes mit den McCanns von der Homepage entfernen, als Kate McCann zur Verdächtigen erklärt wurde.)

Ein vergessener Verdächtiger

Lori Campbell, Reporterin der britischen Boulevardzeitung »The Mirror«: »Mir ist Robert Murat gleich aufgefallen. Er fragte ständig nach dem Stand der Ermittlungen. Manchmal sagte er auch, er glaube, das Mädchen sei schon längst tot. Ich habe die portugiesische Polizei auf ihn hingewiesen.«

Francisco Pagarete, Robert Murats Anwalt: »Mein Klient ist nur ein Sündenbock. Anfangs hat er sich der Polizei als Übersetzer angeboten und niemand hat ihn beschuldigt – bis eine britische Reporterin mit dem Finger auf ihn zeigte. Heute Morgen hat die Polizei sein ganzes Haus auf den Kopf gestellt, seinen Computer beschlagnahmt, den Garten umgegraben und sogar das Wasser aus dem Pool gelassen. Sie haben nichts gefunden.«

Robert Murat, 33, britischer Immobilienmakler an der Algarve, lebt mit seiner Mutter Jenny in der Nähe des »Ocean Club« in Praia da Luz: »Ich kann so nicht weiterleben. Ich bin kein Pädophiler. Ich habe doch selbst eine kleine Tochter. Sie heißt Sofia.«

Rachel Oldfield, Freundin der McCanns, die am Abend des 3. Mai mit den McCanns in der Tapas-Bar des »Ocean Club« saß: »Wir sahen einen Mann in der Nähe des Apartments. Er trug eine Decke, in die ein Kind gewickelt war. Ich meine, es war Robert Murat.«

Jenny Murat, Roberts Mutter: »Mein Sohn war den ganzen Abend mit mir in unserem Haus. Jeder, der etwas anderes behauptet, lügt.«

Jane Tanner, die ebenfalls mit den McCanns in der Tapas-Bar saß: »Gegen 21 Uhr 15 wollte ich nach meinem Kind schauen und bin am Apartment der McCanns vorbei. Da sah ich einen Mann, der ein in eine Decke gehülltes Kind trug. Ich dachte mir nichts dabei, viele Eltern trugen zu der Zeit ihre Kinder zu Bett. Im Nachhinein wurde mir bewusst, dass das Kind denselben Pyjama trug wie Madeleine. Ich sah den Mann die Anlage in Richtung des Hauses von Robert Murat verlassen.«

Inspektor der portugiesischen Polizei, der anonym bleiben möchte: »Robert Murat ist nicht mehr im Fokus unserer Ermittlungen. Die Indizien deuten auf eine Täterschaft der McCanns.«

Die Ermittlungen der portugiesischen Polizei

Philomena McCann, Madeleines Tante: »Mir hat die britische Polizei erzählt, dass sie sehr erstaunt war über die Inkompetenz der portugiesischen Kollegen. Einen der Kommissare da unten haben sie gleich am zweiten Tag in ›Inspektor Ahnungslos‹ umgetauft.«

Britischer Polizist, der die portugiesische Polizei bei den Ermittlungen unterstützte: »Ich bin fassungslos, wie in den ersten 24 Stunden nach der Entführung geschlampt wurde. Nicht einmal Straßensperren haben sie errichtet.«

Christoph Reichenbach, Sprecher des Polizeipräsidiums München: »Es ist absoluter Humbug, der portugiesischen Polizei vorzuwerfen, in den ersten Stunden der vermeintlichen Kindesentführung keine Straßensperren errichtet zu haben. Das macht keine Polizei der Welt. Wir bekommen in München mehrere Vermisstenmeldungen am Tag. Würden wir jedes Mal die Straßen sperren, würde die Stadt zusammenbrechen.«

Olegário Sousa, Sprecher der portugiesischen Polizei: »Wir sind mehr als 350 ernst zu nehmenden Hinweisen aus Belgien, Spanien, Marokko, Argentinien, der Schweiz und Malta nachgegangen. Alle Spuren haben ins Nichts geführt. Wir gehen nun davon aus, dass das Mädchen bereits tot ist. Die Statistik sagt: Knapp 90 Prozent der Fälle vermisster Kinder haben ihren Ursprung in der Familie und nur neun Prozent der Kinder werden von Unbekannten entführt.«

Die letzten sieben Stunden

Portugiesischer Ermittler in der Zeitung »24 Horas«: »Der einzige Beweis, der Madeleine McCann an jenem Tag lebend zeigt, ist ein Foto, das die McCanns am Pool des ›Ocean Club‹ aufgenommen haben. Das Kameradisplay zeigt 13 Uhr 29. Von da an bis zur Ankunft der McCanns in der Tapas-Bar gegen 20 Uhr 40 liegen sieben Stunden. In dieser Zeit hat niemand außer den Eltern das Kind gesehen.«

Gerry McCann, Madeleines Vater: »Die Uhrzeit in unserer Kamera war falsch eingestellt, es war bereits 14 Uhr 29, als wir das Foto geschossen haben.«

Mark Williams-Thomas, Privatdetektiv: »Zwischen Großbritannien und Portugal besteht keine Zeitverschiebung. Von den fallenden Schatten auf dem Foto ausgehend, muss man annehmen, dass die Zeit auf dem Kameradisplay stimmt.«

Ein portugiesischer Polizist im Magazin der Zeitung »24 Horas«: »Die McCanns haben widersprüchliche Aussagen zum 3. Mai gemacht. Gerry McCann sagt etwa, er war nachmittags Tennis spielen. Kate McCann sagt, sie war mit ihrer Tochter den ganzen Tag am Pool. Aber keiner hat sie dort gesehen.«

Mark Williams-Thomas: »Die entscheidende Frage ist: Wo war Kate McCann zwischen der Aufnahme des Fotos um 13 Uhr 29 und ihrer Ankunft in der Tapas-Bar des ›Ocean Club‹ um 20 Uhr 40?«

Miguel Matias, Besitzer des Restaurants »Paraiso« am Strand von Praia da Luz: »Einer meiner Angestellten ist sicher, die McCanns und ihre Kinder gegen 17 Uhr in meinem Restaurant gesehen zu haben. Ich habe der Polizei die Aufnahmen unserer Überwachungskamera ausgehändigt.«

Mark Williams-Thomas: »Wenn die McCanns im ›Paraiso‹ waren, würde das die Anschuldigungen gegen sie entkräften.«

Gerry McCann: »Wir waren am 3. Mai nicht im ›Paraiso‹.«

Charlotte Pennington, Kindermädchen im »Ocean Club«: »Alle drei McCann-Kinder haben bei mir um 17 Uhr einen Tee getrunken. Ich habe an diesem Tag auch Robert Murat in der Ferienanlage gesehen.«

Ein portugiesischer Ermittler in der Tageszeitung »Diário de Notícias«: »Freunde der McCanns sagen, die McCanns hätten Madeleine im Kinderhort des ›Ocean Club‹ abgegeben. Dafür müsste es schriftliche Beweise geben, denn jeder, der dort sein Kind abgibt, muss sich bei Ankunfts- und Abholungszeit in eine Liste einragen. Bisher fehlt uns dieser Beweis.«

Kioskbesitzerin in Praia da Luz: »Ich denke, ich habe Gerry McCann und seine kleine Tochter um 18 Uhr gesehen. Er hat ihr hier bei mir ein Eis gekauft.«

Kate McCann: »Mir fällt es sehr schwer, über die letzten Stunden zu sprechen. Noch kurz bevor ich sie zu Bett brachte, sagte Madeleine: ›Mami, das war der schönste Tag meines Lebens! Ich habe so viel Spaß hier! Ich habe einen Tanz einstudiert, den ich dir morgen zeigen will. Okay?‹«

David Payne, der mit den McCanns in der Tapas-Bar saß: »Wir haben unsere Kinder alle regelmäßig kontrolliert, es war ein ständiges Kommen und Gehen.«

Hotelangesteller, der in der Tapas-Bar arbeitet: »Ich habe nicht bemerkt, dass die Briten ständig aufgestanden sind, um nach ihren Kindern zu schauen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, ob überhaupt einer in dieser Zeit aufgestanden ist.«

Gerry McCann: »Wir sind etwa um 20 Uhr 30 am Tapas-Restaurant angekommen. Ich habe kurz nach neun im Apartment vorbeigeschaut. Da war alles noch okay. Auf meinem Weg zurück habe ich Jeremy Wilkins getroffen, einen anderen britischen Urlauber, den ich zuvor auf dem Tennisplatz kennengelernt hatte. Wir haben ein bisschen geplauscht, dann bin ich zurück zum Tapas-Restaurant.«

Kate McCann: »Ich wusste sofort, dass sie entführt worden sein muss. Sie wäre nie aus dem Apartment gegangen. Niemals! Nicht ohne ihr Kuscheltier. Und das lag doch auf dem Bett.«

Gerry McCann: »Kurz nach zehn hörte ich Kate schreien: Madeleine ist weg. Madeleine ist weg. Jemand hat Madeleine entführt!«

Jeremy Wilkins, Urlauber im »Ocean Club«, der die McCanns beim Tennisspielen kennengelernt hat: »Ja, ich habe Gerry zur fraglichen Zeit getroffen. Aber einen anderen Mann sah ich dort nicht herumschleichen. Auch nicht Robert Murat.«

Gerry McCann: »Ich bin mir sicher: Der Entführer hielt sich bereits in unserem Apartment auf, als ich kurz nach 21 Uhr nach den Kindern gesehen habe. Die Tür zum Kinderzimmer stand offen, obwohl ich sie zuvor geschlossen hatte. Damals dachte ich mir nichts dabei, vielleicht war Madeleine aufs Klo gegangen oder aufgestanden, um etwas zu trinken. Aber heute kann ich es mir nur so erklären, dass der Entführer bereits dort war. Er hat abgewartet, bis ich das Apartment wieder verlassen hatte, und sich dann Madeleine geschnappt.«

Carlos Anjos, Vorsitzender der portugiesischen Polizeigewerkschaft: »Vier Monate nachdem seine Tochter verschwunden ist, vier Monate, in denen er mehrmals von der Polizei befragt worden ist, erzählt Herr McCann plötzlich in der britischen Presse, er vermute, der Entführer habe sich im Apartment aufgehalten, während er nach seinen Kindern geschaut hat! Wenn er wirklich dachte, es befinde sich jemand im Apartment – warum ging er dann seelenruhig wieder zurück in die Tapas-Bar?«

Die Weinflaschen in der Tapas-Bar

Gerry McCann: »Wir sind nicht naiv. Wir hatten nie die Illusion, die Presse kontrollieren zu können. Aber die Art, wie hier in Portugal mit kriminaltechnischen Informationen umgegangen wird, ist gruselig. Es wurde geschrieben, dass wir an jenem Abend zu neunt 14 Flaschen Wein getrunken hätten. Wir haben aber nur vier Flaschen getrunken, zwei standen ungeöffnet auf dem Tisch.«

Hotelangestellter, der in der Tapas-Bar arbeitet: »Wir haben der Polizei die Rechnung der Gesellschaft übergeben. Aber es standen sicher mehr als nur sechs Flaschen auf dem Tisch.«

Aus einem Artikel des portugiesischen Magazins »Sol«: »Der Polizei liegt die Rechnung vor. Darauf steht: acht Rotweinflaschen, sechs Weißweinflaschen.«

Kate McCann: »14 Flaschen Wein in nicht einmal eineinhalb Stunden? Selbst zu meinen Studienzeiten habe ich das nicht geschafft. Es ist schreiend ungerecht, was uns hier angedichtet wird.«

Einwohner, die vor dem Polizeirevier im portugiesischen Ort Portimão standen, als Kate McCann zum Verhör vorgeladen wurde: »Buh! Buh! Welche Mutter lässt ihre Kinder allein, um mit Freunden 14 Flaschen Wein trinken zu gehen?!«

Brendan de Beer, Chef der englischsprachigen Zeitung »Portugal News«: »In Portugal ist es Polizisten per Gesetz verboten, zu laufenden Ermittlungen auch nur ein Wort zu sagen. Aber wie kommen die Spekulationen in die Zeitung? Nun, ein Polizist geht nach Hause und erzählt seiner Frau unter vier Augen, was er heute auf dem Revier gehört hat. Die Ehefrau erzählt es tags darauf ihrem Friseur und der wiederum erzählt es einem Journalisten mit der Zugabe, er habe es aus ›Ermittlerkreisen‹ erfahren. Und am nächsten Morgen liest ganz Portugal, dass es nicht vier, sondern 14 Flaschen Wein waren, die am Abend von den Engländern geleert wurden. Ich bin sehr enttäuscht von einigen Kollegen hier in Portugal.«

Die Pressekampagne

Amanda Platell, Kommentatorin der Boulevard-zeitung »Daily Mirror« am Tag des Papstbesuches: »Liebe McCanns, bitte, bitte, im Namen Madeleines, tretet nur für einen Moment ein bisschen auf die Bremse. Der Lastwagen, den Ihr da ins Rollen gebracht habt, könnte bald außer Kontrolle geraten.«

Christian Lüdke, Kriminalpsychologe: »Ich denke, dass die Eltern etwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun haben. Diese Pressekampagne ist doch abstrus. Eltern, die ihre Kinder verloren haben, stehen meist unter Schock, sind hilflos, verzweifelt und ziehen sich zurück. Aber die McCanns sind schon nach ein paar Tagen gemeinsam joggen gegangen, als ob nichts wäre. Und in seinem Internettagebuch schreibt der Vater fast täglich über Banalitäten, etwa welches Hemd er trägt und wie das Wetter ist. Das macht kein Vater, der verzweifelt ist.«

Jill Renwick, Freundin von Kate McCann: »Kate rief mich am Morgen des 4. Mai an und sagte: ›Hilf mir! Bitte, hilf mir! Wir haben sie die ganze Nacht gesucht und nicht gefunden.‹ Sie war am Boden zerstört. Ich habe den Fernsehsender GMTV angerufen. Außerdem ist John Gordon, der Bruder des britischen Premierministers, mein Nachbar. Ich traf ihn tags darauf auf der Straße und bat um Hilfe. So begann die Kampagne.«

Gordon Brown, britischer Premierminister, am 13. Tag nach der Entführung: »Wir werden die Familie McCann in jeder erdenklichen Weise unterstützen.«

Gerry McCann: »Die Kampagne hat sich aus sich selbst entwickelt, es existierte nie ein Masterplan. Zum Beispiel hat ein uns unbekannter Franzose die Internetadresse www.findmadeleine.com gekauft und sie uns gratis zur Verfügung gestellt. Der Mann einer Cousine hat große Unternehmen wie BP oder McDonald’s gebeten, ihre Verkaufsstellen mit Aushängen von Madeleines Foto auszustatten. Dass die das europaweit getan haben, hat mich auch überrascht. Und von David Beckhams Videobotschaft habe ich auch erst spät erfahren: Bevor ich Kardiologe wurde, arbeitete ich bei einem Sportmediziner. Mein damaliger Chef kennt Alex Ferguson, den Trainer von Manchester United, und fragte ihn, ob er helfen könne.«

David Beckham, britischer Fußballer, in einer landesweit in Portugal ausgestrahlten Videobotschaft, in der er ein Foto von Madeleine in die Kamera hält: »Wenn Sie dieses kleine Mädchen gesehen haben, bitte gehen Sie zur Polizei und geben Sie Ihre Information weiter.«

Olegário Sousa: »Die Omnipräsenz des Falles in den Medien behindert unsere Arbeit.«

Thomas Fricker, Reporter der britischen Boulevardzeitung »The Sun«: »Mal ehrlich: Wenn die Portugiesen die McCanns nicht unter Verdacht gestellt hätten, wäre dieser Fall spätestens im August aus den Schlagzeilen gefallen. Diese gespenstische Vorstellung, sie hätten etwas mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun, ist der eigentliche Motor unserer Berichterstattung.«

Richard Branson, Milliardär und Abenteurer, der die McCanns finanziell unterstützt: »Ich glaube den McCanns vorbehaltlos. Wir telefonieren oft. Ein Kind zu verlieren ist die schlimmste Erfahrung der Welt. Ich habe ihnen 150 000 Euro gegeben, damit sie ihre Anwaltskosten bezahlen können.«

Thomas Fricker, britischer Reporter: »Der Anwalt der McCanns, Michael Caplan, verlangt rund 650 Euro pro Stunde. Gerry hat als Kardiologe vor Madeleines Verschwinden rund 100 000 Euro im Jahr verdient, Kate als Gynäkologin knapp 65 000 Euro.«

Kate McCann: »Ich mag eigentlich keine Kameras. Schon im Studium fiel es mir schwer, vor mehreren Leuten zu sprechen. Ich habe mich nie freiwillig für ein Referat gemeldet. Ich fühle immer eine Beklemmung, wenn ich in der Öffentlichkeit auftreten muss. Aber ich tue es jetzt für meine Tochter. Die Schuld, in jenem Moment des 3. Mai nicht bei Madeleine gewesen zu sein, wird uns unser ganzes Leben begleiten.«

Laut einer aktuellen Meinungsumfrage der britischen Zeitung »The Sunday Times«: »Nur 20 Prozent der Briten sind von der völligen Un-schuld der McCanns überzeugt. 48 Prozent glauben, dass die Eltern etwas mit dem Verschwinden des Kindes zu tun haben."