Weiße Ostern sind das Thema des Tages in der Hotellobby von »Schloss Elmau«. Wim Wenders steht neben seiner Frau Donata, kneift die Augen zusammen, schaut hinaus ins Schneetreiben, dreht sich um und sagt: »Na ja, Kinowetter.« Sein neuester Film startet heute, 2. April, Gründonnerstag, in den deutschen Kinos: Every Thing Will Be Fine, James Franco und Charlotte Gainsbourg spielen die Hauptrollen.
Doch wegen dieses Films ist Wenders nicht hier. Auf »Schloss Elmau« wird am Abend seine Dokumentation Das Salz der Erde über das Leben des preisgekrönten Fotografen Sebastião Salgado aufgeführt, mit anschließendem Publikumsgespräch. Und das ist irgendwie symptomatisch für sein Dilemma: Spielfilme sind für Wenders die Königsklasse. Doch seit Jahren hat er damit nicht den gewünschten Erfolg. Umso besser kommen seine Dokumentarfilme an. Das Salz der Erde war im Februar für den Oscar nominiert. Er könnte stolz sein. Doch an diesem Abend in Elmau (und weit darüber hinaus, wie man später feststellen wird) beschäftigt Wenders vor allem, wie viele Leute für Every Thing Will Be Fine ins Kino gehen werden.
Noch während des Vorspanns von Das Salz der Erde schleicht sich Wenders aus dem Kinosaal zum Abendessen. Der Tisch im »Fidelio«-Restaurant ist für sechs Personen gedeckt: Wenders, seine Frau, seine Agentin, die Gastgeber. Der Kellner erklärt, was es gibt. Fragend blickt Wenders seine Frau an, die sagt, nicht die Nudeln vorweg, ist zu schwer, ich würde die Suppe nehmen. Das tut er dann auch.
Wie schnell entscheidet sich eigentlich das Schicksal eines Films?
»Man weiß nach zwei Tagen, ob er läuft oder floppt«, sagt Wenders.
Ist er nervös?
»Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich wäre ruhig. Ich bin froh, hier zu sein, in Berlin säße ich jetzt am Rechner und würde die Besucherzahlen kontrollieren.«
Dann ist er still, dreht sein leeres Glas auf der Tischdecke, dreht an seinem Ehering, legt die Hände flach auf den Tisch, betrachtet sie eingehend. Er könnte Konversation machen. Er tut es nicht. Seine Frau redet für ihn. Sie lacht, fragt, nickt, versucht ihn einzubeziehen. Er wirkt abwesend und nervös. Das könnte am Filmstart von Every Thing Will Be Fine liegen, es könnte am bevorstehenden Publikumsgespräch liegen, es könnte auch einfach seine Art sein.
Um halb zehn legt Wenders seine Serviette auf den Tisch und steht auf, um in den Kinosaal zu gehen. Auf die Fragen der Zuschauer antwortet er ausführlich, scheint mit dem Publikum lieber zu reden als am Abendessenstisch. Als eine Zuschauerin von Salgados Frau Lélia schwärmt, die ihrem Mann sein jahrelanges Fortbleiben unter größten Gefahren, seine Karriere also und eine Familie dazu ermöglicht hat, sagt Wenders: »Ich möchte Sie auf eine Person aufmerksam machen, sie steht auf der anderen Seite dieses Saals. Das ist meine Lélia.« Applaus, die Leute sind gerührt. Donata Wenders wird rot.
Am nächsten Morgen Wintermärchenland. Donata Wenders verlässt das Hotel, um das Tal zu erkunden. Auf der Terrasse blinzelt sie in die Sonne, wühlt in ihrer Tasche und setzt ihre Sonnenbrille auf. Die Zahlen waren nicht so gut gestern, sagt sie. Sie meint den Kinostart von Every Thing Will Be Fine.
Dann hebt sie trotzig den Kopf und lacht. »Also machen wir weiter mit unserem Mantra.«
Welches Mantra?
»Everything will be fine natürlich«, sagt sie und stapft durch den Schnee davon.
Einen Monat später in Düsseldorf. Wenders ist mit Beat Wismer, dem Kurator, zur Hängung seiner Ausstellung Landschaften. Photographien im Museum Kunstpalast in Düsseldorf verabredet.
Wenders wurde 1945 in Düsseldorf geboren. Die Stadt ehrt ihn nun anlässlich seines 70. Geburtstages im August mit einer Retrospektive und der Ausstellung. Es könnte ein gutes Jahr sein für ihn, mit der Oscar-Nominierung für Das Salz der Erde, der Ehrung auf der Berlinale für sein Lebenswerk, der großen Retrospektive im Museum of Modern Art in New York und der Ausstellung Time Capsules. By the Side of the Road ab September in Berlin.
Doch richtig glücklich macht ihn das alles nicht. Wenn ihn gerade etwas glücklich macht, ist es seine 2012 gegründete Stiftung, die sein Gesamtwerk archiviert und seine alten Filme restauriert und digitalisiert. Die Filme, die seine Bedeutung begründeten.
Wim Wenders ist für Deutschland einmal das gewesen, was Jean-Luc Godard für Frankreich war. Ein Erneuerer. Einer, der sich was traute und den Zuschauern mit seinen Filmen etwas zumutete. Ein Autorenfilmer. In den Siebzigerjahren war es so wichtig, Wenders-Filme zu gucken, wie die Musik von Bob Dylan zu hören.
Heute kennen immer noch viele seinen Namen, sein Gesicht, seine Frisur, seine leise Stimme mit dem unverkennbaren, leicht pathetischen Timbre. Aber die meisten gehen nicht mehr in seine Filme. Die einen haben damit aufgehört, weil sie Paris, Texas so sehr mochten und Himmel über Berlin so wenig. Oder umgekehrt. Wieder andere sind jünger und haben nie verstanden, was an diesen langsamen, epischen Filmen überhaupt dran sein soll.
Sie stehen im kleinen Kreis zusammen, Beat Wismer, Wim und Donata Wenders. Wismer sagt etwas, Wenders schüttelt auf seine stille Weise entschieden den Kopf und entgegnet: »Ich gehe immer da in eine Ausstellung rein, wo die anderen rauskommen. Ich lese ja auch den Spiegel von hinten.« Dann geht er weg, die Hände hängen herunter, die Schultern fallen nach vorn, sein Gang hat etwas Watscheliges an diesem Tag, was die weite schwarze Hose seines Lieblingsdesigners Yohji Yamamoto noch unterstreicht.
Ein zäher Vormittag. Wenders läuft wie ziellos umher, von einem Raum in den anderen und wieder zurück, schaut prüfend und mit sehr gerunzelter Stirn auf die Wände, an denen teilweise schon Bilder hängen, die meisten riesig: karge, weite Landschaften, vereinzelt Menschen, verfallende Häuser, verlassene Städte. Orte, wie Wenders sie liebt und wie man sie auch aus seinen Filmen kennt. Die Wüste in Paris, Texas. Die staubige Straße aus Im Lauf der Zeit. Die Mauer in Der Himmel über Berlin. Die Kleinstadt in Don’t Come Knocking. Ein Gefühl für Orte und dafür, wie man sie mit der Kamera einfängt, sprechen ihm sogar die Leute zu, die mit seinen Filme nichts anfangen können.
Als Außenstehender hat man das Gefühl, dass nichts vorangeht an diesem Tag. Bilder werden auf- und wieder abgehängt. Köpfe zusammengesteckt. Abstände ausgemessen. Wenn man etwas von Wenders wissen möchte, guckt er in die andere Richtung. Wenn man einen Scherz versucht, läuft er davon. Wenn er herumsteht und man sich annähert, sagt er: »Das – ist – das – Haus – vom – Nikolaus« und formt dazu einen Zollstock, den er gerade in der Hand hält, zum Haus. Dann sucht er die Männer, die seine Bilder auf Rädern im Museum hin und her fahren, und singt vor sich hin: »Sag mir, wo die Männer sind, wo sind sie geblieben?« Er singt gut.
Donata Wenders, die ihren Mann stets im Blick hat, begreift, wie schwer er es einem gerade macht, und sagt: »Hühnersuppe? Ich weiß ein schönes Café in der Altstadt.« Sie läuft vor, durch strömenden Regen und peitschenden Wind, eine Zeitung über dem Kopf, lachend, übermütig. Bei Suppe und Tee mit Schlagsahne erzählt sie, dass ihr Mann früher noch viel weniger geredet hat. Wie lang es gedauert hat, bis sie sich daran gewöhnt hatte, auf manche Fragen Tage später eine Antwort zu bekommen. Aber, und das möchte sie vor allem sagen, er hört zu, auch wenn es nicht so wirkt. Er nimmt alles auf, verarbeitet es und kommt darauf zurück.
Macht er das mit allen Leuten so?
»Ja. Es wird weniger, aber es kommt vor, dass wir Besuch haben und er liest was auf dem iPhone. Da könnte ich an die Decke gehen, das verunsichert die Leute natürlich. Und ich kann ja schlecht erkären, dass er alles mitkriegt.«
Sagt jemand mal was?
»Nein. Die Familie betrachtet es als einen Teil von ihm. Und andere Leute sagen natürlich nichts. Als ich ihn beim Drehen von In weiter Ferne, so nah! kennengelernt habe, dachte ich, diesen Menschen wird nie jemand kennen. Ihn kann man gar nicht kennen.«
Das ist 22 Jahre her. Seitdem sind die beiden ein Paar. Die Geschichte, wie sie sich kennengelernt haben, fassen sie beinahe in dieselben Worte, als würden sie als Zeugen vor Gericht aussagen: Der Dreh dauerte ein halbes Jahr, er Regisseur, sie Kamera-Assistentin. »Keiner von uns kam auf die Idee, etwas zwischen Mann und Frau könnte bei uns passieren«, sagt sie, im Café in Düsseldorf. »Am letzten Abend, bei der Wrap Party, fiel mir zum ersten Mal auf, dass er ein toller Mann ist. Und plötzlich wusste ich: Das ist ja mein Mann!«
»Wir hatten beide keine Ahnung«, sagt er zwei Wochen später in Paris darüber, wie die Liebe entstand. Es ist zehn Uhr morgens, die dritte Verabredung, Wenders ist diesmal freundlich, aufgeräumt, beinahe zugewandt. Nach einem ausgedehnten Frühstück sitzt er im Erker eines kleinen Hotels in Saint-Germain-des-Prés. Das Frühstück, erklärt er unaufgefordert, sei für ihn die wichtigste Mahlzeit des Tages. Seine Frau hat so etwas auch erzählt, am Regennachmittag in Düsseldorf: Er, der sonst nie kochen würde, bereite oft das Frühstück zu, mühevoll, liebevoll, penibel sogar. Um die Eier auf den Punkt zu kochen, würde er ausmessen, auf welcher Höhe über dem Meeresspiegel sie sich gerade befänden und wie lang ein Ei da brauche.
»Innerhalb seines Lebens habe ich mein Leben gefunden...«
Wenders ist in Paris, um die Dreharbeiten für einen neuen, kleinen Film vorzubereiten. Die schönen Tage von Aranjuez ist die Verfilmung einer Novelle seines ältesten Freundes Peter Handke: ein Ort etwas außerhalb von Paris; zwei Schauspieler, einer davon der derzeitige französische Jungstar Reda Kateb. Das ist auch etwas, was seine Kritiker ihm lassen müssen: Er hat ein Gespür für Schauspieler und holt sie sich oft, kurz bevor sie Stars sind. Hanna Schygulla in Falsche Bewegung. Nastassja Kinski in Paris, Texas. Michelle Williams in Land of Plenty. Sarah Polley in Don’t Come Knocking.
Die Liebesgeschichte also. »Es war ein gleichzeitiges beiderseitiges Verstehen«, so sagt es Wim Wenders. »Normalerweise freue ich mich auf den letzten Drehtag. Die Kräfte schwinden, man will nur noch, dass es zu Ende ist. Aber diesmal war ich traurig. Dann habe ich gemerkt, dass es wegen Donata war. Weil ich sie nicht mehr sehen würde. Ich bin zu ihr gegangen und habe gesagt, ich wusste gar nicht, dass du es bist. Ein halbes Jahr später haben wir geheiratet, so klar war alles.«
Mit Donata, sagt er, war es von vornherein anders als mit seinen früheren Frauen. Und er hatte viele Frauen, mit einigen der Hauptdarstellerinnen in seinen Filmen war er verheiratet: Edda Köchl-König. Lisa Kreuzer. Ronee Blakley. Isabelle Weingarten. Erst kürzlich erschien eine Liste von Wenders, fünfzig Tipps für angehende Regisseure, Nummer 20: »Never fall in love with your leading lady.« Er grinst. »Das ist wohl das Ergebnis meiner eigenen Erfahrungen. Ein Segen, dass ich endlich mal hinter die Kamera geguckt hab.«
Kann man sagen, dass er den Frauen an seiner Seite viel zugemutet hat?
»Ja. Muss man sagen. Das hat sich grundlegend verändert mit Donata. Sie muss auch viel mitmachen, aber es ist anders.«
Was ist anders?
»Ich will kein einsamer Wolf mehr sein, sondern möchte mein Leben wirklich mit jemandem teilen.«
Liegt das an Donata oder an ihm?
»Liegt an Donata. Ihre Fröhlichkeit. Ihre positive Energie. Ihr Lachen, das schönste der Welt.« Pause. »Aber auch ein bisschen an mir. Ich bin lernfähig. Ich bin einfach nicht mehr fasziniert von den ungebundenen Männern.«
Es gibt einen Film über die frühen Jahre von Wim Wenders, der heißt Von einem der auszog. In diesem Film erzählt Lisa Kreuzer, wie sie in München in einem Haus lebten, sie und er und ihr Sohn, dem er wie ein Vater war. Manchmal ging sie aus dem Haus, weg von dem schweigenden, sich nicht auseinandersetzenden Wim Wenders, fuhr zu einer Telefonzelle und rief ihn an. Damit er mit ihr reden musste. Eines Tages verließ er sie. Die Beziehung zu ihr habe etwas so Endgültiges bekommen, da habe er weiter gemusst, sagt er in dem Film. Und dass er wisse, wie weh er ihr getan habe.
Tja. Er sitzt da und schweigt. Nickt nachdenklich und dreht an seinen Ringen. Legt die Hände nebeneinander auf den Tisch und betrachtet sie. Immerhin seien sie noch befreundet, Lisa Kreuzer und er, sagt er. Eigentlich habe er zu allen seinen Ex-Frauen ein gutes Verhältnis.
In den frühen Wenders-Filmen sind die Männer Künstler oder Lebenskünstler, getrieben vom Wunsch, etwas Besonderes zu sein. Narzissten. Einsam, aber Helden, weil Wenders sie so sieht. Die Frauen an ihrer Seite verhungern emotional, leiden, werden zickig.
In den späten Wenders-Filmen sind die Männer immer noch einsam und narzisstisch, aber dabei bemitleidenswert. Weil Wenders sie jetzt so sieht. Die Frauen sind schön, stark, heldenhaft.
Donata Wenders hat im Düsseldorfer Café gesagt, es habe vieles erleichtert, dass sie, als sie sich kennenlernten, zwanzig Jahre jünger und noch zu formen gewesen sei. »Denn entweder gehe ich sein Leben mit oder nicht. Innerhalb seines Lebens habe ich mein Leben gefunden.« Sie hat auch gesagt, dass die Art, auf die sie sich gefunden hätten, diese Klarheit, sie durch manche Krise getragen habe. Weil beide nie mehr in Frage gestellt hätten, dass sie zusammengehörten.
Dann hat sie Dinge aufgezählt, die sie einfach zu mögen findet an ihrem Mann: »Wim ist schnell im Kopf, hat ein unglaublich gutes Gedächtnis, und er ist so witzig. Das denkt ja keiner, aber er reißt einen Witz nach dem anderen, so nebenher. Er ist großzügig, Wenders Verschwenders. Maßlos. Er kann nicht einen Keks essen, sondern isst die ganze Packung auf. Als wir uns kennenlernten, war er ziemlich dick und hat hundert Zigaretten geraucht. Jetzt ist er so fit und schlank, weil er so diszipliniert wie maßlos sein kann. Und ganz wichtig: Wim ist ein Familienmensch.«
Als sein Neffe und seine Nichte noch klein waren, fuhr Wenders jedes Jahr am 6. Dezember nach Münster zur Familie seines Bruders und schlüpfte ins Nikolauskostüm. Dann starb der Bruder mit noch nicht vierzig an einem Hirntumor, kurz danach starb auch der Vater. Von da an rief Wenders seine Mutter täglich um sechs Uhr Oberhausener Zeit an, egal wie spät es dort war, wo er sich gerade befand. Für seinen Neffen und seine Nichte war und ist er »der beste Onkel, den man sich vorstellen kann«, sagt Hella Wenders am Telefon. Hella und ihrem Bruder brachte der Onkel von seinen Reisen verschiedenste Dinge mit, Minibuntstifte aus Japan oder Roboter, die Krümel vom Tisch fegen. Und Kleidung, sagt Hella Wenders, die ihnen passte und gefiel. »Er kleidet sich ja selbst sehr gut. Und hat immer etwas dezent Besonderes an, zwei verschiedenfarbige Turnschuhe oder einen kleinen roten Punkt auf der schwarzen Jacke.«
Wenders, der Familienmensch, wollte er nie eigene Kinder? »Von wollen kann keine Rede sein«, sagt er. »Ich hätte gern Kinder gehabt, aber ich konnte nicht. Das ist festgestellt worden, als ich zwanzig war. In den Nachkriegsjahren bin ich an Diphtherie und Mumps erkrankt oder was auch immer. Wir hatten jedenfalls nicht die richtigen Medikamente. Unfruchtbarkeit war eine Spätfolge davon.«
War das schlimm?
»Wenn man das früh weiß, akzeptiert man das. Es hat ja keinen Sinn, sich schmollend in die Ecke zu setzen. Ich habe das meinen Partnerinnen immer sofort gesagt. Und jetzt bin ich zwölffacher Patenonkel. Für die Kinder meines Bruders habe ich mich ohnehin sehr verantwortlich gefühlt. Der Klaus starb 1989, da waren sie noch klein.«
Als Kind fühlte Wenders sich bereits für seinen sechs Jahre jüngeren Bruder verantwortlich. Der Vater war ein Patriarch und großes Vorbild für beide Söhne, aber als besessener Chefarzt fast immer abwesend. Die Mutter war viel krank, sodass die Kinder ziemlich auf sich gestellt waren. 1960 zog die Familie von Düsseldorf-Benrath nach Oberhausen-Sterkrade, weil der Vater als Chefarzt ans dortige Krankenhaus berufen wurde. »Härte zehn war das«, sagt Wenders. »Ich war 15, hatte alle meine Freunde in Düsseldorf, ich ging morgens durch den Schlossgarten zur Schule, alles war grün, verwunschen, wunderschön. Und dann Oberhausen-Sterkrade. Hässlich wie die Nacht.«
Sie wohnten direkt gegenüber vom Krankenhaus, mitten im Pott. Schwerindustrie und chemische Industrie um sie herum, der Himmel oft gelb, und wenn ein Buch lange geöffnet liegen blieb, bildete sich eine Rußschicht auf den Seiten. Mutter Wenders heulte wochenlang jeden Abend, so vermisste sie Düsseldorf. Der ältere Sohn jedoch fing an, die Industrielandschaft zu fotografieren. Und zu lieben.
»Angst ist 'ne mächtige Sache, und sie geht nicht von selbst wieder weg.«
Und das Schweigen, war das immer schon so seine Art? Selbst Peter Handke, der kein großer Plauderer ist, sagt, dass er im Zusammensein mit Wenders manchmal nur redet, weil er das Schweigen seines Freundes nicht erträgt.
Wenders schließt die Augen und erinnert sich: Wie recht es ihm als Kind war, wenn die anderen um ihn herum redeten. Dann konnte er still sein. »Ich hasse es, über Dinge zu sprechen, über die man eigentlich nicht sprechen muss. Dinge zu sagen, die ich schon einmal gesagt habe. Small Talk. Ich bin darin ungeschickt und dumm und hab's nicht drauf«, sagt Wenders. Ein Grund auch, warum Ehrungen ihn mehr anstrengen als freuen. »Ich weiß nicht, wie ich Komplimente annehmen soll«, sagt er. »Welche verteilen ist viel einfacher. Ich kann nur reden, wenn es um etwas geht. Das hab ich gelernt. In einer siebenjährigen Psychoanalyse.«
1968 besuchte Wenders in München im ersten Jahrgang die Filmhochschule. Bei einem Bekannten aß er dreißig Haschischkekse, ohne zu wissen, dass Haschisch drin war. Im Krankenhaus wurde ihm der Magen ausgepumpt, doch sein Herz raste weiter, sein Puls stieg auf 220, Herzinfarkt, er erlebte den Nahtod. Danach hatte er nur noch Angst. Davor, nie wieder runterzukommen. Angst vorm nächsten Anfall. »Ich war übermannt von Angst. Angst ist 'ne mächtige Sache, und sie geht nicht von selbst wieder weg.«
An fünf Tagen in der Woche saß er beim Psychoanalytiker. Die Stunden gaben seinem Leben eine Struktur und waren ihm so wichtig, dass er seine ersten Filme nur in den Sommerferien drehte, weil sein Analytiker da nicht arbeitete. Nach sieben Jahren war er durch. Austherapiert.
Und heute? Keine Ängste mehr?
»Fragen Sie ihn, wie er mit Niederlagen umgeht«, hatte Donata Wenders im Düsseldorfer Café gesagt. »Mit Enttäuschung. Ist ja ein Riesenthema in seinem Leben.«
»Ja«, sagt er, »Arthouse, da bin ich drin, in der Kategorie, da komme ich nicht mehr raus«, sagt er. »Und Arthouse ist am Ende. Aber Niederlagen fördern den Charakter.« Er fängt an zu lachen. »Erfolg nicht unbedingt.« Jetzt lacht er, als hätte er einen Anfall. Holt tief Luft, versucht, ernst zu bleiben. »Niederlagen machen einen kräftig, Erfolg macht dich platt. Ist wirklich so. Ich habe mit meinen Erfolgen mehr zu kämpfen gehabt als mit meinen Niederlagen. Paris, Texas war die Hölle. Ich habe drei Jahre lang nicht gewusst, wie ich weiterarbeiten soll.«
Er steht auf. Zeit, zum Versicherungsarzt zu gehen, das gehört zur Vorbereitung eines Filmdrehs. »Ich bin froh«, sagt er im Gehen, »immer nur das gemacht zu haben, worauf ich Lust hatte. Einige der Dinge, auf die ich Lust hatte, sind nicht gut gelaufen. Aber man kann nicht kalkulieren, was läuft und was nicht. Also macht man am besten das, was man machen möchte. Dann hat man, wenn’s schiefgeht, jedenfalls Spaß gehabt.« Sagt er und verabschiedet sich. Wenders ist bekennender Workaholic. Als er die kleine Straße entlangläuft, pfeift er leise vor sich hin. Endlich kann der Arbeitstag beginnen.
Einige Wochen später. Ein frischer Wind streicht durch Düsseldorf, es ist zehn Uhr morgens, Sommer. Wim Wenders steigt aus dem Taxi. Kräftige graue Haare, ordentlich geschnitten. Turnschuhe, blaues Hemd, beiger Leinenanzug, etwas zerknittert, der ganze Wim Wenders ist etwas zerknittert, aber voller Leben. Er winkt, streckt die Hand aus, nickt, lächelt, ist fast irritierend verbindlich.
Vor Tau und Tag musste er aufstehen, ein paar Stunden bis zum Flughafen von Barcelona fahren, um jetzt hier zu sein, in der Düsseldorfer Altstadt, wo drei Schulklassen seinen Film Land of Plenty aus dem Jahr 2004 anschauen und danach mit ihm darüber reden. Stolz verkündet der Direktor des Filmmuseums: »Nicht alle Tage hat man die Gelegenheit, einen der größten zeitgenössischen Regisseure persönlich begrüßen zu dürfen.« Die meisten der Schüler hatten noch nie von Wim Wenders gehört, bevor die Filmvorführung auf ihrem Stundenplan stand und er zum Unterrichtsthema wurde.
Nach der Vorführung unterhalten sich vier Mädchen auf dem Klo. »War schon interessant«, sagt eine. »Aber stellenweise zu lang.« Die anderen nicken.
Wenders sitzt im Schneidersitz auf einem Vorsprung vor der Leinwand im Kino. Die Lehrerin steht neben ihm und fragt ihre Schüler nach der Handlung des Films: Wie weit spiegelt der Held des Films die Anschläge vom 11. September 2001 wider? Ein Junge, der sich nicht meldet, wird aufgerufen. Seine Antwort klingt, als sei er in einem anderen Film gewesen. Die Lehrerin schüttelt den Kopf. Wenders lächelt amüsiert.
Dann sollen die Schüler Fragen an Wim Wenders stellen. Viele rutschen ein paar Zentimeter tiefer in ihre Sitze hinein. »Ihr könnt euch ruhig trauen«, ermuntert er sie. »Warum drehen Sie eigentlich immer diese Roadmovies, die gar nicht so viele Menschen ansprechen?«, fragt ein Mädchen. Wenders erklärt, unbeleidigt, dass er es mag, chronologisch zu drehen und es beim Roadmovie nicht anders geht. Weil man ja nicht am Ende des Weges anfangen kann. Er ist locker, redselig, macht Witze und trifft den Ton, den die Schüler mögen.
Dann sagt er: »Ich hab mal ne Frage an euch. Was glaubt ihr, kostet ein Film heute?« Achselzucken. 200 Millionen Euro, sagt er, seien normal für einen Hobbit. »Und was meint ihr, hat dieser Film gekostet?« Wieder Achselzucken. »0,1 Prozent vom Hobbit«, sagt er. Raunen. Ein Junge fragt: »Finden Sie das gut?« Wenders: »Mit einem teuren Film hätte ich nicht all das erzählen können, was ich erzählen wollte. Je mehr Geld man hat, desto weniger Freiheit hat man.« Der Junge nickt, überzeugt sieht er nicht aus. Man muss nicht lange rätseln, wofür er sich entscheiden würde, wenn er die Wahl hätte zwischen einem Wim-Wenders-Film und einem Hobbit.
Er mag diese Gespräche mit dem Publikum, sagt Wenders später. »Das ist ein offener Austausch, da kommen gute Fragen und wichtige Kommentare. Das gehört für mich zum Gebrauchtwerden.«
Das ist es: Wim Wenders möchte gebraucht werden. Ein Film soll, sagt er, ein Bedürfnis befriedigen. Nützlich sein. Wie ein Lebensmittel. Wie die Musik von Bob Dylan in den Siebzigerjahren. Das, was seine Filme verbindet, sagt Wenders, ist, dass sie mit dem Leben etwas zu tun haben. Denn nur so können sie nützlich sein. »Aber die Leute gehen nicht mehr ins Kino, um etwas zu sehen, das was mit ihrem Leben zu tun hat, sondern weil sie etwas sehen wollen, das mit ihrem Leben möglichst nichts zu tun hat.« Damit wäre so weit alles gesagt.
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Time Capsules. By the side of the road.
Wim Wenders' recent photographs
17. September bis 14. November 2015
Blain|Southern Berlin
Weitere Informationen unter: www.blainsouthern.com
Fotos: Ramon Haindl