SZ-Magazin: Herr Burroughs, als Jugendlicher träumten Sie davon, ein berühmter Friseur zu werden. Hatten Sie damals auch gedacht, dass einmal Brad Pitt einen Film mit Starbesetzung über Ihr Leben als Teenager produzieren würde? Augusten Burroughs: Als ich mit dem Schreiben begann, habe ich diesen Traum vom Ruhm aus den Augen verloren. Ich habe damit gerechnet, Jahrzehnte bis zu einer Veröffentlichung zu brauchen. Dass der Erfolg so schnell gekommen ist und ich ihn dann auch noch als Schriftsteller statt als Friseur erhielt, ist schon sehr lustig. Heute mache ich allerdings nichts, was Stars gemeinhin so machen. Ich gehe nicht auf Partys oder Filmpremieren oder so. Ich stehe jetzt eher auf ein ganz normales Familienleben.
Immerhin teilen Sie mit Tom Wolfe die Stammkneipe in der New Yorker Upper West Side. Wirklich? Den habe ich hier noch gar nicht getroffen. Aber nach Manhattan komme ich nur noch selten. Ich bin mit meinem Lebenspartner Dennis aufs Land gezogen, nach Neuengland, in die Nähe meines Bruders und meines Neffen.
Ist es wahr, dass zu Ihren Autorenlesungen häufig 2000 Menschen erscheinen? Nicht zu jeder, nicht in jeder Kleinstadt im Süden oder Mittleren Westen, aber in New York, Seattle, Atlanta oder Chicago sicherlich. Manchmal lese ich in Unis, da sind 2000 Zuhörer nicht ungewöhnlich.
Welche Passagen aus Ihren beiden Erinnerungsbüchern lesen Sie üblicherweise? Das hängt ganz vom Publikum ab. Bei eher konservativen Zuhörern muss ich bei der Auswahl schon etwas aufpassen.
Ihre freimütigen Schilderungen eines schwulen, drogensüchtigen Alkoholikers, der zudem noch in seiner Jugend von einem anderen Mann missbraucht wird, müssen für konservative Amerikaner die reinste Provokation darstellen. Sicherlich, aber viele von ihnen lesen mich trotzdem. Selbst aus den religiösesten Landstrichen im Süden der USA bekomme ich viel Post von Menschen, die mich heimlich lesen. Fundamentalisten kommen natürlich nicht so häufig zu meinen Lesungen. Aber wenigstens gab es bisher auch keine Demonstrationen gegen mich oder meine Bücher.
Das könnte sich mit dem Filmstart von Krassschnell ändern. Vielleicht. Aber Amerika hat auch ein Herz für Underdogs, die den größten Mist gegen jede Wahrscheinlichkeit relativ unbeschadet überleben. Amerika liebt Außenseiter wie mich.
Amerikaner lieben sogar einen homosexuellen Schriftsteller? Vielleicht, weil ich mich nicht bemitleide. Oder weil ich mich nicht für irgendwelche peinlichen Erlebnisse geniere. Bis Mitte, Ende zwanzig tat ich das sehr wohl und sprach nie über meine Kindheit. Ich trank, um diese Erlebnisse aus meinem Gedächtnis zu tilgen, aber das funktionierte natürlich nicht.
Heute bringen Sie die Menschen mit Ihren peinlichen Kindheitserlebnissen sogar zum Lachen. Nur deswegen konnte ich ja über die dunklen Erlebnisse in meinem Leben schreiben. Horror und Humor sind eng miteinander verknüpft, sehr eng. Ich gebe jedenfalls niemand anderem die Schuld für irgendeine Katastrophe in meinem Leben. Ich glaubte immer, wenn mir irgendwann einmal Glück und Freude vergönnt sein sollten, müsste ich selbst derjenige sein, der dafür sorgt.
Ihre Mutter schob Sie nach ihrer Scheidung in eine Pflegefamilie ab, in der Sie von einem sehr viel älteren Mann missbraucht wurden. Selbst damals haben Sie sich nie als Opfer begriffen? Nein, nie, nicht einmal als Kind, nicht einmal dem Mann gegenüber, der mich als 13-Jährigen zum Sex gedrängt hatte. Ich fühlte, dass viele Fehler begangen wurden, dass es unglückliche Umstände in der Schule oder zu Hause gab. Ich verspürte auch Wut gegen Menschen, die mich nicht richtig behandelten oder gar nicht behandelten, wie im Falle meines Vaters. Die Wut verhinderte, dass ich mich in Depressionen hineinfallen ließ.
Haben Sie heute wieder Kontakt zu Ihren Eltern? Mein Vater ist inzwischen verstorben, aber wir hatten vor seinem Tod wieder ein gutes Verhältnis, nachdem unsere Beziehung lange sehr schwierig gewesen war. Ich bin auch seinetwegen aufs Land gezogen. Dafür rede ich mit meiner Mutter inzwischen nicht mehr. Ich liebe sie, sie ist ja schließlich meine Mutter, aber ich mag sie nicht. Ich habe lange gebraucht, um diesen Unterschied zu begreifen. Meinem Bruder geht es genauso.
Können Sie Ihrer Mutter nicht vergeben? Doch. Ich denke, sie war psychisch krank und narzisstisch. Ohne Kinder wäre sie wahrscheinlich viel glücklicher gewesen.
Hat sie Ihr Buch gelesen? Sie war nicht glücklich über das, was ich über sie schrieb. Aber es war ja mein Buch und meine Perspektive. Wahrscheinlich war meine Mutter auch ein wenig eifersüchtig, denn sie wollte ihr Leben lang schreiben, hatte aber mit ihren Gedichten keinen Erfolg. Sie erkennt auch keinen Fehler in der sexuellen Beziehung, die ich mit Bookman, einem Adoptivsohn in meiner Pflegefamilie, hatte. Er war Anfang 30, ich 13. Meine Mutter findet diese Beziehung immer noch in Ordnung.
Bedeutete das Schreiben für Sie einen therapeutischen Prozess? Meine Wut entlud sich beim Schreiben meiner Tagebücher, schon in der Jugend. Aber inzwischen sind genügend Jahre vergangen, ich bin erwachsen geworden. Inzwischen bedeutet das Schreiben für mich nur mehr das Reden mit einem besten Freund.
Sie haben heute Millionen bester Freunde. Ihre Bücher wurden sogar in China und Japan veröffentlicht. Ja, es ist auch ein seltsames Gefühl, hier in New York auf der Straße zu gehen und zu wissen, dass die Menschen mich so gut und so intim kennen. Aber meine Leser wissen auch um diese Ungleichheit und öffnen sich mir gegenüber schnell. Und das ist das Schönste, was das Schreiben mir neben meinem Seelenheil gebracht hat: unglaublich viele Menschen, die bei den Lesungen offen auf mich zukommen.
Glauben Sie, viele Menschen haben Ähnliches erlitten? Ich weiß inzwischen von Politikern, Rockstars, Pennern, Anwälten, die ebenfalls seltsame Kindheitserlebnisse durchlitten haben und nun froh waren, dass einer von ihnen darüber spricht. Unsere Probleme sind ähnlich, trotz aller ideologischen, politischen, sozialen Differenzen. Das zu sehen und zu erleben war ein Geschenk für mich. Ohne das Schreiben hätte ich meine Einsamkeit nicht überwinden können.
Hat Ihnen das Schreiben auch über die Drogen und den Alkohol hinweggeholfen? Letztlich ja. Ich trank unglaublich viel, als ich begann, meinen ersten Roman zu schreiben. 1999 lebte ich in einem winzigen Apartment im East Village, in dem sich fünf Jahre lang Schnapsflaschen und Pizzaschachteln angesammelt hatten. Ich schrieb das erste Manuskript von Sellevision in einer Woche. Am Ende des Buches hatte ich sieben Tage lang nicht getrunken, einfach weil Trinken beim Schreiben stört. An diesem Tag änderte sich mein Leben. Mein Plan danach war, an einen billigen Ort irgendwo im Mittleren Westen zu ziehen, um so lange zu schreiben, bis man mich irgendwann veröffentlichen würde. Aber mein Agent verkaufte das Manuskript so schnell, dass ich gleich weiterschreiben musste. Deswegen erzählte ich meinem Agenten von dem Tagebuchjournal, das ich an dem Tag begonnen hatte, als ich nüchtern wurde, und das später unter dem Titel Trocken! veröffentlicht wurde. Ich trank, seitdem ich ein Teenager war. Wirklich jeden Tag? So ziemlich jeden Tag und ab 17 Jahren wirklich täglich. Das Buch Trocken! begann ich, weil ich nichts mehr mit mir anzufangen wusste, ich trank ja nicht mehr. Ich wusste nicht mehr, wie man in der Welt ohne Alkohol und Drogen funktionieren kann. Die Entzugsklinik, die ich dann aufsuchte, hat mir da geholfen, auch um zu lernen, wie körperliche Abhängigkeit funktioniert. Zu der Zeit schrieb ich wie ein Weltmeister. Ich ging hinunter, um Zigaretten zu holen, und schrieb darüber anschließend eine Stunde lang. Ich legte mein ganzes Leben unter ein Mikroskop. Das half mir.
Inzwischen rauchen Sie nicht einmal mehr. Nikotinkaugummis brauche ich allerdings immer noch.
Gehen Sie noch zu den Anonymen Alkoholikern? Darüber möchte ich nicht reden. Würde ich in einer Zeitung zugeben, nur einmal pro Woche in eine Sitzung zu gehen, könnte ein anderer glauben, ein einziges Mal reiche ihm auch – das wäre verheerend. Die Sitzungen bei den Anonymen Alkoholikern waren eine enorme Hilfe.
Waren die Leute dort nicht enttäuscht, dass Sie über die Treffen schrieben? Einige waren es wohl, aber die Szenen aus so einem Meeting sind ohnehin bekannt. Und ich habe die Geschichten im Buch so verändert, dass niemand erkannt werden konnte. Ich habe niemanden bloßgestellt.
Die Mitglieder Ihrer Pflegefamilie sehen das anders. Die Familie Finch ist mit dem Film Krass sehr unglücklich. Sie reichten erst Klage gegen meinen Produzenten ein, dann gegen meinen Verleger und schließlich auch gegen mich. Aber der Prozess ist noch nicht abgeschlossen und ich sollte mich dazu nicht äußern. Ich finde den Film sehr gelungen und überhaupt nicht diffamierend. Er ist sehr lustig, sehr schockierend und sehr einfühlsam geworden. Stimmt es, dass der Filmstart verschoben wurde, um bei der Oscar-Verleihung im Februar bessere Chancen zu haben? Soweit ich weiß, beschloss man, die Werbekampagne größer zu fahren, nachdem die Verantwortlichen beim Verleih gemerkt hatten, wie gut der Film werden würde. Der Film behandelt ja auch ein großes Thema: die Suche nach einer eigenen Familie.
In Ihrem Buch liest Ihr Pflegevater, ein Psychiater, aus den verschiedenen Exkrementen der Familienmitglieder ihre jeweiligen Orakel. Verzichtet der Film auf die obszönen Szenen? Sagen wir, der Film zeigt das Ereignis, aber in einer verträglichen Art und Weise. Der Regisseur Ryan Murphy hat alle Szenen so behandelt, dass niemand im Kino auf den Teppich kotzen wird.
Gibt es Nacktszenen? Um Himmels willen. Wir Amerikaner sind an blutige Gewalt gewöhnt, haben aber eine unglaubliche Phobie vor Nacktheit. Janet Jacksons Brustwarze verursacht einen ähnlichen Medienalarm wie der 11. September. Nein, selbst in den Sexszenen zwischen Bookman und mir ist niemand völlig nackt zu sehen. Krass! und Trocken! haben Sie in New York geschrieben. Jetzt leben Sie in der ländlichen Idylle. Eine Flucht? Nein, ich brauchte einfach mehr Platz, mein Apartment in New York wurde zu klein und ich wollte mehr Zeit mit meinem Neffen verbringen. Er ist jetzt 13, also genau in dem Alter, in dem ich zu meiner Pflegefamilie kam. Ich sehe ihn jeden Tag nach der Schule und motiviere ihn, in die Schule zu gehen. Ist das nicht lustig? Ich, der kaum zur Schule ging, überzeuge meinen Neffen von den Vorzügen der Schule.
Für wie viele Erinnerungsbücher bietet Ihr Leben noch Stoff? Oh, für unendlich viele. Zuerst werde ich einen Erzählungsband über all meine Ferien schreiben, ich hatte nämlich viele furchtbare Urlaube, dann ein Buch über die Beziehung zu meinem Vater und anschließend ein Buch über meinen Bruder. Er leidet am Asperger-Syndrom, einer Art Autismus, und ist dennoch ein Genie. Mit Anfang zwanzig hat er alle Gitarren der Rockgruppe Kiss entworfen und die ganze Lightshow inklusive der Raketen, die sie auf der Bühne abfeuerten.
Können Sie auch völlig erfundene Romane schreiben? Natürlich. Für Fiktion brauche ich nur länger, dafür ist es aufregender, einen Roman zu schreiben, weil ich dieses Universum völlig kontrollieren kann. Der amerikanische Schriftsteller Augusten Burroughs, 41, aus Pittsburgh war Hundetrainer, Segelschneider und Ladendetektiv, bevor er mit 19 erfolgreicher Werbetexter in San Francisco und New York wurde. Mit seinen autobiografischen Büchern »Krass!« und »Trocken!« hat er als Autor Berühmtheit erlangt. Seine Teenager-Erlebnisse aus »Krass!« wurden nun mit Annette Bening, Joseph Fiennes, Alec Baldwin und Gwyneth Paltrow in einer Produktion von Brad Pitt verfilmt. In Deutschland startet der Kinofilm nächste Woche. Zuletzt erschien von Burroughs der Erzählungsband »Werbepause« bei Rowohlt.