Forsch schaut Hildegard Danne in die Linse der Kamera. Die Haare sind zum Bubikopf geschnitten. Sie trägt ein Kleid mit gestärktem Rüschenkragen und dazu glänzend gewichste Schnürschuhe. Mit der linken Hand umfasst sie die Lehne eines Stuhls, in der rechten hält sie einen Teddybär. Das Bild ist scharf, nur der Teddybär verwackelt. Sie zeigt ihn so entschieden vor, als wollte sie sagen: Es geht nicht anders, er muss mit aufs Bild. Auf der Rückseite schreibt ihre Mutter: »Lieber Onkel, habe Hildchen heimlich fotografieren lassen. Bekommen Ernst und Klärchen zu Weihnachten.« Dies ist das erste, erhalten gebliebene Foto Hildegard Dannes, geborene Schultze, aufgenommen im Kriegswinter 1916. Damals ist sie zwei Jahre alt, ihr Leben hat gerade erst begonnen. Fast ein ganzes Jahrhundert wird es dauern. Im Herbst wäre sie hundert Jahre alt geworden.
Es ist ein Leben wie viele es geführt haben, in Deutschland, im vergangenen Jahrhundert, als Frau. Geboren wird Hilde am 6. November 1914 in Berlin, ein Freitag. Der Kriegseintritt des Deutschen Kaiserreichs liegt 98 Tage zurück. Viele Soldaten kommen nicht wieder, die Lebensmittel werden in der Stadt schon im ersten Kriegswinter knapp. Die Zeiten sind nicht gut, um ein Kind auf die Welt zu bringen. Vielleicht war ihre Mutter von einem verheirateten Mann schwanger geworden. Vielleicht war sie Dienstmädchen in einem Bürgerhaushalt gewesen – und Hilde das illegitime Kind des Hausherrn? Klar ist nur: Ihre Mutter ist auf sich allein gestellt und muss wieder arbeiten gehen. So kommt Hilde in die Obhut ihrer Großmutter.
Hilde wächst bei ihr in der Karl-Kunger-Straße 64 auf. Die Wohnung in Berlin-Alt-Treptow wird sie später übernehmen und ihr ganzes Leben dort verbringen. Hier erlebt Hildegard Danne zwei Weltkriege, den Verlust eines geliebten Mannes, den Mauerbau, die Großherzigkeit einer Klassenfeindin, das Glück einer zweiten Liebe, fünf Währungswechsel, die kleinen Sorgen und Nöte ihres Stiefsohns, die Wiedervereinigung Deutschlands; von ihrem Balkon aus kann sie auf die Berliner Mauer schauen. Wie sie gebaut und wie sie abgerissen wurde.
Im Sommer 2004, zwei Jahre vor ihrem Tod, bekam sie eine neue Nachbarin, mich. Meine Freundin und ich gründeten nebenan eine Wohngemeinschaft. An ihrem Klingeschild stand »Hildegard Danne«, doch im Laufe ihres Lebens trug sie drei Nachnamen: ihren Mädchen-namen Schultze und die ihrer Männer – Zimmer und Danne. Manchmal trafen wir uns auf der Treppe, und wenn wir beide Zeit hatten, setzten wir unser Gespräch in ihrer Wohnung fort. Das Zimmer, in dem ich wohnte, hatte irgendwann einmal zu ihrer Wohnung gehört. Bei jedem Besuch wies mich Frau Danne auf die ursprünglichen Besitzverhältnisse hin. Wenn sie anhub zu erzählen, trommelte sie mit den Fingerspitzen an die Wand. Sie sagte dann immer: »Früher hatte das Zimmer Fräulein Weber angemietet, und jetzt sind Sie da.« Jeder konnte am Leben des anderen teilnehmen. Ihre Woche hatte ein paar Höhepunkte: Am Freitag rief ihre Freundin Alice an. Sie sprachen über ihre beiden Katzen und den Verlauf der Woche – und siezten sich. Die Wand war dünn, ich musste ihren Gesprächen folgen. Am Samstagabend schaute sie Volksmusiksendungen im Fernsehen. Wegen ihrer Schwerhörigkeit mit aufgedrehtem Ton. Und jeden Nachmittag gegen 15 Uhr konnte man sie auf der Treppe treffen, dann ging sie einkaufen oder zum Seniorentreff.
Ich folgte ihren Einladungen zum Kaffeetrinken. Für die Dauer des Gesprächs versanken wir in ihrer durchgesessenen Couch, über die sie eine Wolldecke ausgebreitet hatte und auf der immer ein bisschen Platz bleiben musste für ihren schwarzen Perserkater Benji. Mich faszinierte die Vorstellung, dass sich die politischen Verhältnisse ändern mochten, man von geliebten Menschen Abschied nehmen musste, aber der Ort, an dem man lebte, immer derselbe blieb. Eine einfache Zwei-Zimmer-Wohnung in Ostberlin; Küche, Stube – so nannte sie das kleine Wohnzimmer immer – Bad, Schlafzimmer und Balkon, vielleicht 55 Quadratmeter groß. Ihr Stolz war eine riesengroße Zimmerpflanze: eine Grünlilie auf einem Extrapodest vor dem Fenster. Als die Superillu einmal einen Wettbewerb um die schönste Zimmerpflanze Berlins ausgerufen hatte, gewann sie. Ein Redakteur und ein Fotograf kamen vorbei, es erschien ein Beitrag, darauf war sie stolz. »Wollen Sie nicht einen Ableger mitnehmen?«, forderte sie mich jedes Mal auf. Immer wieder.
Sie war ein beharrlicher Mensch, nicht herzlich, aber eindringlich und energisch, eine kleine stämmige Person mit lockigen Haaren und blauen Augen. Sie war es, die im Gespräch das Thema bestimmte und die stur zum Thema zurückführte, wenn man abwich. Ich fragte sie am liebsten über ihr Leben aus, über die Umstände und die Zwänge. Ich studierte damals Geschichte. Besonders interessierte mich die neue deutsche Vergangenheit, und es war angenehm, sich ihr über die Lebenszeit von Frau Danne zu nähern. Sie wiederum sprach am liebsten über ihren Kater Benji, zeigte mir Kissen und T-Shirts, die mit seinem Konterfei bedruckt waren – und danach wieder unbenutzt in den Schrank wanderten. So waren unsere Treffen zum Kaffee immer auch ein Tauschgeschäft. Ich hörte ihren Tiergeschichten zu, sie belohnte meine Geduld mit Anekdoten aus ihrem Jahrhundert.
Im Frühjahr 2006 wurde sie gebrechlich, tat sich immer schwerer, die zwei Stockwerke zu ihrer Wohnung zu steigen, und zog sich zurück. Bald darauf kam sie in ein Pflegeheim. Im gleichen Sommer starb sie. Zwei Tage dauerte die Auflösung des Hausstandes. Die Hausverwaltung hatte jemanden bestellt, der einfach alles wegwarf: Möbel, Teppiche, Gardinen, Porzellan landeten in einem Container. Zuletzt entsorgte er Fotos, Briefe und Dokumente in unsere Papiertonne im Hinterhof. Als er weg war, schlich ich die Treppe hinunter und rettete Frau Dannes Nachlass. Meine verstorbene Nachbarin hatte kein eigenes Kind, keine Geschwister, ihr zweiter Mann war schon seit
21 Jahren tot. Ich bin mir sicher, sie wäre einverstanden, dass ich von ihr erzähle – sofern ich nur ausreichend oft ihre Katzen erwähnte.
310 Mal wird Berlin bombardiert, 310 Mal bangt Hilde um ihr Leben.
Ihre erste Ehe
Als 21-Jährige verbringt sie mit ihrem späteren ersten Mann einen Urlaub auf der Nordseeinsel Borkum. Es gibt ein Passfoto von ihm: Er schaut mit großen ausdrucksvollen Augen schüchtern drein, das Bild schließt mit dem Kragen seiner Wehrmachtsuniform ab. Hilde posiert für ihn auf der Strandpromenade, mit Haarband und geschürzten Lippen in steifer Seebrise. Sie räkelt sich am Strand und lässt ihren Körper von der Brandung umspülen. Und dann das einzige zärtliche Bild mit ihm: Er sitzt im Badeanzug am Strand, hat die Beine angewinkelt und lächelt. Hilde versucht ihn einzubuddeln, seine Beine sind schon verschwunden. Sie lässt Sand über seine Schulter rieseln.
In ihrem gemeinsamen Urlaub im Sommer 1936 halten sie auch die Vorboten des aufziehenden Krieges mit der Kamera fest. Ein Schiff aus der Deutschland-Klasse der Kaiserlichen Marine liegt vor Borkum, wahrscheinlich die SMS Schleswig-Holstein. Kadetten winken den Zuschauern von der Reling aus zu. Unter ihnen auch Hilde. Es wird dieses Schiff sein, das am 1. September 1939 mit der Beschießung der Westerplatte im Hafenkanal Danzig den Zweiten Weltkrieg eröffnet.
Hilde ist damals 24 Jahre alt. Im Herbst 1940 fallen die ersten Bomben auf Berlin. Auch der Keller von Hildes Haus wird zum Luftschutzbunker umgebaut. Ist ein Geschwader in Richtung Hauptstadt unterwegs, erfährt man es aus dem Volksempfänger. Fällt der Name der Stadt »Gardelegen«, sind sie im Anflug auf Berlin. In dieser Zeit, so wird Frau Danne später erzählen, schläft sie in ihren Kleidern, um beim Sirenen-alarm Zeit zu sparen. Im Flur steht ein gepackter Koffer mit dem Nötigsten, den nimmt sie mit runter in den Luftschutzbunker. »Ruhe! Hinsetzen! Nicht rauchen!«, steht an den Bunkerwänden geschrieben. Die Bomber kommen meist nachts, zur Tiefschlafphase, und sie kündigen sich durch ein grausiges Spektakel an: Zuerst beschreiben Vorausflieger mit schwebenden Leuchtmitteln am Nachthimmel das Hauptziel des Angriffs mit einem Kreis. Er markiert die Stelle, an der gleich Menschen sterben und Gebäude zerstört werden. 310 Mal wird Berlin bombardiert, 310 Mal bangt Hilde um ihr Leben.
Endlich, im Mai 1945, ist der Krieg zu Ende. Nur sechs Kilometer von Hildes Wohnung entfernt, unterzeichnet der Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel in Karlshorst die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht. Am 6. August 1945 stirbt Hildes Großmutter Martha in dieser zerstörten Stadt und wird am 11. August am Friedhof am Baumschulenweg beigesetzt. Die Todesanzeige ist handschriftlich verfasst. Hilde steht dort als trauernde Enkelin – mit Doppelnamen: »Schultze-Zimmer«. Zimmer ist der Name des Mannes mit dem schüchternen Blick und der Wehrmachtsuniform. Kurz nach ihrem gemeinsamen Nordseeurlaub hatten sie geheiratet, dann war er in den Krieg gezogen und sollte nie zurückkommen. Hilde wird zum ersten Mal Witwe, seinen Nachnamen legt sie wieder ab. Die zentrale Einwohnermeldekartei im Polizeipräsidium am Alexanderplatz wurde 1943 bei einem Bombenangriff zerstört, nach Kriegsende ging man durch die zerbombte Stadt und zählt ihre Bewohner neu. Hilde sagt den Beamten nur ihren Mädchennamen: Schultze.
Ab Juni 1948 dröhnen wieder die Flugzeuge über der Stadt, Tag und Nacht: 280 000 Mal fliegen die Rosinenbomber rund um die Uhr auf die Stadt zu, um sie am Leben zu halten. Die sowjetische Militäradministration hat alle anderen Verbindungswege blockiert. Wieder schläft Hilde in Kleidern. Diesmal wegen der Kälte. Die Kohleration reicht im Winter gerade aus, um nicht zu erfrieren: Hilde zieht los und sammelt in den Straßen von Ostberlin Äste und Gestrüpp, um sie zu verfeuern. Den Holzofen aus dieser Zeit behält sie bis zu ihrem Tod. Eine moderne Heizung wollte sie nicht. Bei dem Holzofen wusste sie, woran sie ist, er hatte ihr schon mal das Leben gerettet.
Hilde und Eugen
Bevor Hilde ihren zweiten Mann Eugen kennenlernt, vergehen viele Jahre. Jene Jahre, in denen sie Kinder hätte kriegen können. Aber es gibt in dieser Zeit keinen Mann in ihrem Leben. So bleibt sie selbst kinderlos, aber in ihren Briefen nimmt sie regen Anteil an den Entwicklungen der Kinder ihrer Freunde und Bekannten. Ihre Schulfreundin Erika bekommt eine Tochter. Hilde hat die beiden oft zu Besuch in ihrer Wohnung und liebt es, sie in intimen Momenten miteinander zu fotografieren: beim Schlafen, wie Erika einen Arm schützend um den Säugling gelegt hat. Beim Spielen in ihrer Stube und bei den ersten Schritten unten auf der Straße. Erst als Hilde Mitte vierzig ist, tritt Eugen in ihr Leben. Da hat sie schon gar nicht mehr damit gerechnet. Eugen wird ihr 1961 durch den Bau der Mauer geschenkt. Er liebte eigentlich eine andere: Erna. Eine Frau aus Westberlin. Durch die Teilung der Stadt wird die unerreichbar für ihn.
Erna lebt in der Neuköllner Reuterstraße 96, Eugen in der Beermannstraße 8 in Ostberlin. Von Wohnung zu Wohnung sind es nur zweieinhalb Kilometer, die Länge eines Sonntagsspaziergangs. Doch ab dem 13. August 1961 endet der Weg von Eugen und Erna an der Heidelberger Straße. Die Straße, die Eugen und Erna nun trennt, ist nur 4,40 Meter breit, zu schmal für die Mauer. Deshalb hebt man hier einen Graben aus, den man mit Nagelgittern und Panzersperren auskleidet. Doch noch ist die Mauer nicht fertiggebaut, und noch will niemand daran glauben, dass die Teilung endgültig sein soll. Am Kinderspielplatz an der Heidelberger Straße kommen Menschen aus Ost und West zusammen. Man ruft über den Stacheldraht hinweg, gestikuliert, verständigt sich in Zeichensprache miteinander, bringt Operngläser mit, um sich besser zu sehen. Daneben stehen die Grenzsoldaten mit Maschinenpistolen.
Die Mauer wird immer höher, aber noch schreiben sich Erna und Eugen Briefe. Sie berichtet von Ausflügen, Freunden und erinnert sich an gemeinsam Erlebtes. Doch am 23. Oktober 1962 erreicht ihn Ernas letzter Brief: »Mein lieber Eugen, ich denke, wenn jemand da ist, der Dich in seine mütterliche Obhut nehmen will, sollst Du ruhig nachgeben. Ich will noch lange mit guten Wünschen bei Dir sein. Erna.« Sie gibt ihn frei – für Hilde.
Und Hilde will ihn: »Sei doch nicht so töricht und weise die Wärme und Zuneigung zurück, die Dir entgegengebracht wird. Der Altersunterschied? Du siehst besser aus als ein 45-Jähriger«, schreibt sie ihm. Ja, Eugen sah gut aus, Jahrgang 1900, ein Berliner, geboren in Schlachtensee. Auf allen Fotos trägt er eine schwarze Hornbrille, aus der den Betrachter ein sanfter, forschender Blick trifft. Hilde kämpft um ihn, öffnet sich, zeigt ihm ihr Leben, liest ihm sogar aus Briefen ihrer Westberliner Freundin Katjes vor. Und obwohl zu Weihnachten 1963 das erste Passierscheinabkommen in Kraft tritt und Reisen in den Ostteil wieder möglich sind, bleiben Hilde und Eugen ein Paar. Ernas Briefe bewahrt Hilde bis zu ihrem Tod auf.
Hilde, die Katzenzüchterin
Es folgen unbeschwerte Jahre. Eugen gibt seine Wohnung in der Beermannstraße auf. Sie ziehen zusammen in ihre Wohnung. Manchmal kommt ein junger Mann zu Besuch, Eugens Sohn aus erster Ehe. Zwei Flaschen Kräuterlikör und drei Gläser stehen dann auf dem Küchentisch vor dem Kachelofen, Hilde schenkt ein. Man prostet sich zu, bemüht erst nur ein Lächeln für das Foto. Doch dann löst sich die Stimmung. Plötzlich hat der Mann sein Jackett ausgezogen, wiegt einen Teddybär im Arm, mit dem er wie ein Kind kuschelt. Hilde umarmt Eugen, alle lachen in die Kamera. Die Gläser sind fast leer.
Katzen begleiten sie ein Leben lang.
Cornelia Funke: »Ich werde oft gefragt, woher ich nur all die Geschichten nehme. Die Frage erstaunt mich immer zutiefst. Wir alle können Tausende von Geschichten erzählen, denn jedes Leben, auch das scheinbar alltäglichste, ist aus ihnen gewebt. Der nachfolgende Lebensbericht beweist das mit jeder Zeile. Diejenigen von uns, die Geschichten schreiben, wissen, wie schwer es ist, sie so zu erzählen, dass sie uns an die erinnern, die wir alle leben.«
Ihr Hausstand wird unfreiwillig erweitert. Hilde schreibt an ihre Freunde Annchen und Benno: »Meine Bekannte Frau Krebs hat im Oktober 1972 eingereicht, dass sie nach Westdeutschland umsiedeln möchte. Am 23. Januar 1973 konnte sie endlich abreisen. Das hat viel Arbeit gemacht und zum Schluss habe ich ihr auch ihren Kühlschrank und Fernseher abgekauft. An Silvester, abends, sahen wir den Blauen Bock! Ihr auch?« Abgeschickt hat sie diesen Brief nie, vielleicht weil sie fürchtet, dabei ertappt zu werden, Westfernsehen gesehen zu haben, oder über die Umstände einer Ausreise berichtet. Der Schwarz-Weiß-Fernseher ist ein altes Rafena-Gerät, das nun auf einer Holztruhe in der Ecke steht. Annchen und Benno, die Freunde, schicken Westpakete. Eugen fotografiert den Inhalt: eine Packung Mokka-Kaffee, drei Schachteln Pralinen, eine Feinstrumpfhose und Weißwäsche, das Ganze vor einem Alpenveilchen und einer zugezogenen Gardine aufgereiht. Eugen liebt die Fotografie und das Mikroskopieren, Hilde kümmert sich um ihre Katzen.
Katzen begleiten sie ein Leben lang. Auf unzähligen Fotos sind sie zu sehen. Hier ein Selbstporträt, auf dem die zutrauliche Katze im Urlaub an die Wange gedrückt wird, dort ein Kätzchen, das sich in eine Kehrichtschaufel duckt, ihr Kater, der auf dem Küchenstuhl eine Papierschlange erhascht, die von der Lampe herunterhängt. Ihre ersten Katzen sind einfache Hauskatzen, doch bald dürfen es nur noch die Besten sein: Perserkatzen. Hilde beginnt mit der Katzenzucht und nimmt an Wettbewerben teil. »Ende April 1974 war Werbeschau in Neubrandenburg und ›Ede‹ wurde wieder allgemein bewundert! Das macht mir immer Spaß! Ich gebe mich dem Besucherpublikum gar nicht als Besitzer zu erkennen, sondern spiele Mäuschen und höre nur zu, wenn sie schwärmen«, schreibt sie an ihre Kindheitsfreundin Erika. Ihre Katzen haben Tauf- und Rufnamen: »Cherry und Ede, genannt ›Daddy und Pips‹«, unterschreibt sie für die beiden in all ihren Briefen. Bald geht es zu Ausstellungen ins Ausland. Atemlos berichtet sie in einem Leserbrief an die BZ am Abend am 9. Dezember 1971 über eine Reise: »In der VR Polen existiert noch kein Verband für Rassekatzen. Und um für die schönen, lieben Tiere zu werben, wurden wir nach Posen eingeladen. Ein voller Erfolg! Wir wurden mit Fragen bestürmt!« Dort lernt sie »Frau Stefanska« und »Frau Josefa« kennen und freundet sich mit ihnen an. Es folgen Einladungen, Besuche und Gegenbesuche. »Wir hatten acht schöne Tage hier«, schreibt sie weiter. »Ich zeigte ihnen unser schönes Berlin – die Museen, das sowjetische Ehrenmal und natürlich auch den Tierpark!«
Leben an der Mauer
Hilde wohnt in Sicht- und Hörweite der Mauer. Im August 1962 stirbt der 18-jährige Maurergeselle Peter Fechter bei einem Fluchtversuch in der Nähe des Checkpoint Charlie. Über 30 Schüsse feuern die Grenzsoldaten auf ihn ab, einer trifft den jungen Mann. Er liegt zusammengekauert neben der Mauer, ruft lange und laut um Hilfe. Hunderte Menschen werden Zeugen, doch niemand traut sich zu helfen. Die Westberliner Grenzsoldaten werfen ihm über den Stacheldraht Verbandspäckchen zu. Fast eine Stunde liegt Fechter schwerverletzt da, bis er das Bewusstsein verliert. Als die Ostberliner Grenzsoldaten ihn endlich wegtragen, ruft die Menge: »Mörder, Mörder!« Kurz darauf stirbt er. Die Stasi verschleiert fortan mit allen Mitteln Fluchtversuche. Niemand soll von den Gewaltakten gegen die eigene Bevölkerung erfahren. Doch es wird weiterhin an der Mauer geschossen. Acht Menschen kommen in der Nähe von Hildes Wohnung ums Leben. Sechs Männer – und zwei Kinder. Selbst den Eltern der beiden Jungen verschweigt man, wie ihre Kinder ums Leben kamen. Man erzählt ihnen, der zehnjährige Jörg sei beim Spielen in einem See ertrunken und den 13-jährigen Lothar habe ein tödlicher Stromschlag getroffen. Hilde hört einmal Schüsse, der Knall weht bis in ihr Wohnzimmer. Erst als sie alt ist, wird sie das erste Mal darüber sprechen. Widerwillig, und nur im Gegenzug zu einer sehr langen Katzengeschichte. Damals verliert sie kein Wort darüber. Nicht mal in den Briefen, die sie nicht abschickt.
Zwei Stapel Briefe hinterlässt Frau Danne, als sie stirbt. Abschriften von abgeschickten Briefen. Und Briefe, die sie nicht abgeschickt hat. Dieser zweite Stapel ist fast so hoch wie der erste. Der Inhalt ist ein bisschen intimer, sie schreibt über ihre Krankheiten: »Eugen liebt ja sehr die naturgemäße Lebensweise und schickte mich zum homöopathischen Arzt! Er hat mir als Medizin ›Karlsbader Mühlbrunn‹ verschrieben, von dem ich am Morgen ¼ Liter heißgemacht trinken soll.« Über ihre Beziehung zu Eugen spricht sie selten, doch wenn, dann sind es glückliche Sätze: »Ich muss mir doch endlich ein Herz fassen und an Euch schreiben. Jetzt – nachts – habe ich am besten Zeit und vor allem Ruhe dazu – wenn meine ›3 Männer‹ (sie meint einen Mann, zwei Kater) schlafen – ›wohl befüttert‹.« Sie ist eine pragmatische und in allem, was sie tut, penible Person, mit großem Mitteilungsdrang.
Hilde im Alter
Nur von ihrem Beruf hat sie nie gesprochen. Sie arbeitete für die »VVB Lowa«, die Vereinigung volkseigener Betriebe des Lokomotiv- und Waggonbaus. Auf einem Bild geht sie in Mantel und Pumps über ein Werksgelände, im Hintergrund ist eine Lokomotive zu sehen. Auf anderen Fotos sitzt sie an einer Schreibmaschine und tippt. Vielleicht war sie als Sekretärin angestellt. Mit ihrer Freundin Katjes macht sie sich einen Spaß daraus, in Briefen von Ost nach West zu stenografieren. Kurz vor ihrem 60. Geburtstag erhält sie ihren Rentenbescheid. Sie schreibt an Annchen und Benno: »Inzwischen habe ich auch meine Rente eingereicht und auch den Bescheid schon zurück. Denn am 6. November 1974 werde ich ja sechzig. Und da wollte ich ja furchtbar gerne Euch mal besuchen kommen! Ob das geht? Vielleicht auf zwei bis drei Tage?! Ich mache Dir keine besondere Arbeit und bin bescheiden. Was meint Ihr dazu? Bitte gebt mir doch baldmöglichst Bescheid, denn der Antrag bei unserer Behörde läuft ca. vier Wochen.« Auch diesen Brief hat sie nie abgeschickt.
Fast zwanzig Jahre sind Eugen und Hilde ein Paar, ehe sie sich entschließen, am 23. April 1981 zu heiraten. Hilde ist 66 Jahre und Eugen 80 Jahre alt. Es trifft viel Post ein: »Zu Ihrer Vermählung meine herzlichsten Glückwünsche! Mögen Ihnen noch viele Jahre bei bester Gesundheit und voller Harmonie beschieden sein!« Vier Jahre nach der Hochzeit stirbt Eugen. Von den Trauerkarten bewahrt sie keine einzige auf.
Dann kommt die Wende. Drei Straßen weiter, in der Bekenntniskirche an der Plesser Straße treffen sich Ausreisewillige. Sie nennen sich »Reisegruppe 88«, feiern gemeinsam Gottesdienste. Im Keller der Kirche wird auf Wachsmatrizen die Untergrundzeitschrift Kontext gedruckt. Zu Veranstaltungen kommen Hunderte von Menschen. Im Oktober 1989 gibt es vor der Kirche ein Mahnwache. Im Haus gegenüber schreiben bis zur Wende die Mitarbeiter der Staatssicherheit alles mit. Doch Hilde erwähnt die Stasi nicht und die erwähnt Hilde nicht. Bei der Stasi-Unterlagenbehörde gibt es keine Akte über sie. Als es mit der DDR und dem Sozialismus begann, war sie schon fast vierzig, hatte zwei Kriege hinter sich, da umarmt man ein neues System nur, wenn man sich eine Karriere verspricht.
Als wir Nachbarn waren, saß sie bei Sonnenschein oft auf dem Balkon nebenan, las Zeitung, trank Kaffee und streichelte ihre Katzen. Dann, im Frühjahr 2006 wird plötzlich alles schwerer: Sie braucht das Treppengeländer als Stütze, ihre Nylonstrümpfe haben Löcher. Hilfe möchte sie nicht annehmen. Sie stirbt am 27. Juni 2006 im Alter von 91 Jahren.
Das Grab von Hilde und Eugen liegt auf dem Friedhof am Baumschulenweg. Ein rosafarbener Granitstein, der mittlerweile von einer zarten Moosschicht bewachsen ist. Zuerst ist in Goldschrift Eugens Name eingraviert, darunter ihrer. Man merkt, dass es Hilde war, die diesen Grabstein ausgesucht hat. Einfach und schlicht, leicht sauber zu halten – und mit der verschnörkelten Goldschrift auch ein kleines bisschen exzentrisch. So wie sie und ihre Wohnung mit den vielen Katzen und der riesigen Grünlilie.
(Foto Funke: Dressler/Joerg Schwaffenberg)
Fotos: Ulrike Myrzik & Manfred Jarisch