Der Fisch stinkt vom Kopfe

In guten Zeiten sagten die Intellektuellen, wo es langgeht. Längst schon haben die Experten sie abgelöst. Sie hatten aber auch leichtes Spiel.

Intellektuelle sind Leute, die sich in Dinge einmischen, die sie nichts angehen. Der Satz stammt von Jean-Paul Sartre und war natürlich ironisch gemeint von ihm, der zeitlebens den Anspruch erhob, bei allen öffentlichen Angelegenheiten ein gewichtiges Wort mitzureden. Ganz anders bei den Verwaltern der Macht, den Machern in Politik, Wirtschaft und Entertainment: Für sie waren die Intellektuellen seit eh und je vor allem Wichtigtuer, die sich anmaßen, über Dinge mitzureden, von denen sie keine Ahnung haben. Schon Napoleon sprach in diesem verächtlichen Sinn von idéologues, wenn er die aufklärerischen Schriftsteller und Philosophen seiner Zeit treffen wollte. Heute ist die Verachtung der Intellektuellen fast allgemein – selbst unter Intellektuellen. Im technokratischen Zeitgeist glauben die meisten, dass wir gut daran täten, die Gestaltung der Welt allein den Experten anzuvertrauen. Wer als Intellektueller auf sich hält, begibt sich nicht in die Niederungen der Politik, kümmert sich nicht um das Los der Ausgegrenzten, erhitzt sich nicht über eine Ökonomie, die danach trachtet, sich alle Lebensbereiche zu unterwerfen. Die Intellektuellen haben es sich heute in ihren Nischen bequem gemacht, als Spezialisten für Erbauung und geistreiche Unterhaltung, geduldet, belächelt, aber ohne ernst zu nehmende demokratische Funktion. Dabei hatten sie es einst, besonders in Frankreich, zu hohem öffentlichem Ansehen gebracht. Vielen galten sie – und gelten sie dort immer noch – als unersetzliche Wächter der Demokratie. Intellektuelle sind Menschen, so der kürzlich verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu, die »ihre Kompetenz im autonomen Feld der Kultur« dazu nutzen, um »kritisch zugunsten universeller Werte zu intervenieren«. Das ist das klassische Verständnis der Intellektuellenrolle, wie es sich im nachrevolutionären Frankreich herausbildete: Intellektuelle als das Gewissen der Gesellschaft, als unbestechliche Anwälte der Freiheit und der Gerechtigkeit. Die eigentliche Heldenzeit des klassischen Intellektuellen ist das 19. Jahrhundert, genauer die Zeit der Dreyfus-Affäre, als der Dichter Émile Zola mit seinem »J’accuse« die korrupte französische Staatsmacht in die Schranken wies und allein mit dem Mittel des öffentlichen Wortes einem unschuldig Verfolgten, dem jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus, am Ende doch noch Gerechtigkeit verschaffte. Hier bildet sich ein Modell heraus, das über lange Zeit prägend blieb: Der Intellektuelle macht sich zum Sprecher der Sprachlosen und zum Verteidiger der Verfolgten und Gedemütigten. Natürlich entsprach, wie in anderen Fällen auch, die Wirklichkeit nie ganz dem Modell: Immer wieder haben sich Intellektuelle durch die Macht faszinieren und sich von ihr einspannen lassen, nicht selten haben sie sich in einem geistigen Salto mortale, ihren eigenen Intellekt verratend, dogmatischen und irrationalen Zeitströmungen unterworfen. Zuweilen haben sie sich snobistisch von der Gesellschaft und ihren Problemen abgewandt, sich so sehr in ihre eigenen kleinen Machtkämpfe und Intrigen verstrickt, dass sie darüber ihre demokratische Funktion völlig aus den Augen verloren. Skepsis gegenüber einer allzu undifferenzierten Huldigung der Intellektuellen ist also angebracht. Aber ist es richtig, was man heute von vielen Seiten hört: dass der Intellektuelle in unserer modernen Gesellschaft keine Funktion mehr hat und seine Position, wie der Medientheoretiker Norbert Bolz behauptet, »unhaltbar geworden« ist? Die These, wir hätten es heute mit einer allgemeinen Intellektuellendämmerung zu tun, wird meist damit begründet, die moderne Gesellschaft sei viel zu kompliziert geworden, als dass die Intellektuellen – Kulturgeneralisten, die sie sind – kompetent mitreden könnten. Der Intellektuelle werde in seiner gesellschaftlichen Rolle heute vom Experten abgelöst, so der Soziologe Dirk Baecker. Er habe weiterhin »seine Nische in den Massenmedien, als Stichwortgeber, Moderator, Provozierer und Clown vom Dienst«. Wenn es aber um die Zukunft der Gesellschaft, um grundsätzliche Weichenstellungen in der Politik, in Wissenschaft und Technik gehe, seien die Einreden der Intellektuellen heute bedeutungs- und daher zu Recht folgenlos.

Nun wird niemand bestreiten, dass in einer hoch komplexen Gesellschaft bei allen Fragen der politischen Gestaltung Experten zurate gezogen werden müssen. Wer freilich die Krise des Expertentums in den siebziger und achtziger Jahren miterlebt und nicht verdrängt hat, der wird in das Loblied auf die Experten nicht vorbehaltlos einstimmen können. Denken wir nur an den Streit über die Atomenergie und über Umweltfragen, als eine Hand voll Autodidakten aus den Bürgerinitiativen den von Regierung und Industrie aufgebotenen geballten Expertensachverstand blamierte. Oder an die Rolle der »Wirtschaftsweisen«, ihrer Analysen und Ratschläge. Oder auch daran, dass auf dem heutigen Wissenschaftsmarkt gegen Geld für jede noch so absurde Position ein Expertengutachten zu haben ist. Entscheidend ist aber etwas anderes. Bei den in der Demokratie öffentlich zu verhandelnden Fragen geht es keineswegs nur um Sach- und Fachfragen. Politische Entscheidungen sind immer auch Wertentscheidungen. Ob eine Autobahn durch ein Naturschutzgebiet gebaut werden soll oder nicht, ist eine Frage, die letztlich nicht von Experten beantwortet werden kann, sondern allein von den Bürgern, die sagen müssen, was ihnen wichtiger ist: der freie Fluss des Verkehrs oder eine halbwegs intakte Natur. Erst recht gilt dies bei Fragen von Krieg und Frieden, der Verwendung öffentlicher Gelder oder der inneren Sicherheit. Immer kommt es darauf an, wie die Prioritäten gesetzt werden, welche Interessen sich gegen welche anderen behaupten. Das eigentlich Politische bei solchen Entscheidungen ist nicht Sache der Experten, sondern allein des Bürgers. Wer Politik auf Verwaltung und Expertise reduziert, hat die Demokratie schon aufgegeben. Wenn Intellektuelle im klassischen Verständnis sich öffentlich zu politischen Themen äußern, dann haben ihre Argumente im Prinzip nicht mehr Gewicht als die jedes anderen Bürgers auch – wie bei einer Wahl, bei der jede Stimme gleich viel zählt. Aber weil sie in der Regel einen privilegierten Zugang zu den Medien haben, können sie den Streit der Argumente über das Gemeinwohl öffentlich austragen – stellvertretend für die vielen Bürger, denen diese Möglichkeiten fehlen. So setzen sie eine gesellschaftliche Selbstverständigung in Gang, deren antikes Urbild die Versammlung der Freien auf der Agora in Athen darstellt. Den Technokraten war die Intervention der Intellektuellen schon immer suspekt. Auf ihre Fachkompetenz pochend, so Jean Améry, verwiesen sie den klassischen Intellektuellen in den »Strafwinkel des Dilettantismus«. Aber ihr Argument, bei allen öffentlich relevanten Fragen seien allein die Experten zuständig, richtet sich, genau besehen, nicht nur gegen die Intellektuellen, sondern gegen die Demokratie überhaupt. Denn wenn nur noch Experten sinnvoll über politische Fragen mitreden können, wenn es so etwas wie Laienkompetenz in politischen Angelegenheiten nicht mehr gibt, dann haben letztlich auch Wahlen und demokratische Mitspracherechte keinen Sinn mehr. Aus der Sicht der Technokraten sind nicht nur die Intellektuellen, sondern ebenso die auf demokratischer Teilhabe beharrenden Normalbürger Leute, die sich in Dinge einmischen, die sie nichts angehen. Grund genug, sollte man meinen, für die Intellektuellen, ihre öffentliche Rolle als Wächter der Demokratie offensiv zu vertreten. Aber zumindest in Deutschland ist davon zurzeit wenig zu spüren. Die ehemals so selbstgewissen linken Intellektuellen treten heute eher kleinlaut auf. Viele sprechen sich selbst und ihren Kollegen jede Urteilsfähigkeit über ökonomische, technische oder politische Fragen ab. Manche von ihnen reden gar der Ökonomisierung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche das Wort. Dabei braucht man durchaus kein schwarzseherischer Apokalyptiker zu sein, um zu erkennen, was auf dem Spiel steht. Denn es ist zwar richtig, dass der traditionelle Sozialstaat angesichts der dramatischen Veränderungen im Innern unserer Gesellschaft und um uns herum nicht einfach fortgeschrieben werden kann. Aber unbezweifelbar ist eben auch, dass das hohe Maß an sozialer Sicherheit und plausibler Gerechtigkeit so etwas wie die geheime Geschäftsgrundlage der Demokratie darstellt. Die skandalöse Umverteilung von unten nach oben, die in den letzten zwanzig Jahren stattgefunden hat, die hohe Arbeitslosigkeit, die Tatsache, dass große Teile der jüngeren Generation um die faire Chance betrogen werden, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten – dies sind Entwicklungen, die gerade bei denen Beunruhigung hervorrufen sollten, für die Toleranz, Liberalität und demokratische Freiheiten zu den unentbehrlichen Arbeits- und Existenzvoraussetzungen gehören.

Wäre es nicht die ureigene Aufgabe der Intellektuellen, dafür einzutreten, der ökonomischen Logik Grenzen zu setzen? Kann man von ihnen nicht erwarten, Vorstellungen zu entwickeln und zu diskutieren, wie ein humanes Zusammenleben jenseits unserer für Gesellschaft und Natur gleichermaßen zerstörerischen Wachstumsordnung aussehen kann? Was hindert sie, gerade jetzt die Priorität jener Werte einzuklagen, die nicht an der Börse gehandelt werden, von deren Geltung aber Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivilität abhängen? In unserer Gesellschaft gehört dazu nicht einmal besonders viel Mut. Man müsste es nur ertragen können, von der Mehrheit der Politiker, der Verbands- und Medienvertreter, vielleicht sogar der Bevölkerung als weltfremd belächelt zu werden. Damit befände man sich in bester Gesellschaft, denn auch den Pionieren unserer Freiheit erging es oft nicht anders. Heute, in unserer umfragegläubigen Demokratie, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass nicht jede Mehrheitsmeinung – unabhängig von der Art ihres Zustandekommens – schon demokratisch legitimiert ist. Legitimität und damit bindende Kraft wächst Mehrheitsentscheidungen erst dann zu, wenn sie aus einem freien und ungehinderten Wettstreit der Argumente hervorgehen. Auch wenn es ihnen Spott und Anfeindung einträgt, müssen Intellektuelle heute wieder die Courage aufbringen, sich gegen bloße Stimmungsmehrheiten zu stellen, bei denen genau diese Voraussetzung nicht erfüllt ist. Und sie müssen sich entschlossen an die Seite jener stellen, die darauf bestehen, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Politik, überhaupt alle gesellschaftlichen Teilsysteme haben sich in einer Demokratie öffentlich und nach Wertgesichtspunkten zu rechtfertigen. Es war der Soziologe Helmut Schelsky, der in seinem Buch Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen Mitte der siebziger Jahre den Intellektuellen die Priesterrolle zuschrieb. Das war seinerzeit schon ein Missverständnis. Denn damals wie heute können Intellektuelle ihre Auffassungen nicht als Vertreter einer institutionalisierten Macht beglaubigen. Sie gewinnen ihre Autorität, wenn sie denn noch eine haben, allein aus der Übereinstimmung ihrer Botschaften mit ihrem persönlichen Sein und Handeln. Wenn man schon so hoch greifen möchte, dann gleichen die Intellektuellen eher den Propheten als den Priestern. Und wie die meisten Propheten in der langen Geschichte ungebetener Wahrheitsbezeugung werden sie es sich wohl gefallen lassen müssen, von denen, die heute so versiert auf dem Klavier der Stimmungsdemokratie spielen, dem Spott der Mehrheit preisgegeben zu werden. Projekte haben es an sich, dass sie fehlschlagen und in einem Fiasko enden können. Das gilt auch für das von Habermas so genannte Projekt der Moderne. Es gibt keine Garantie dafür, dass die heikle Balance, die die klassische Moderne anstrebt, auch in Zukunft gehalten werden kann: eine Balance zwischen Egoismus und Gemeinwohl, zwischen Können und Sollen, zwischen Rationalität und Humanität. Aber es gibt auch keinen vernünftigen Grund anzunehmen, die Moderne könne ihre Fehlentwicklungen nicht aus ihrer eigenen geistigen Stärke heraus korrigieren. Doch das geht nur, wenn es in unserer Gesellschaft Instanzen gibt, die eben diese geistigen Grundlagen immer wieder verteidigen. Hier sind die Intellektuellen gefordert. Wäre es nicht die ureigene Aufgabe der Intellektuellen, dafür einzutreten, der ökonomischen Logik Grenzen zu setzen? Kann man von ihnen nicht erwarten, Vorstellungen zu entwickeln und zu diskutieren, wie ein humanes Zusammenleben jenseits unserer für Gesellschaft und Natur gleichermaßen zerstörerischen Wachstumsordnung aussehen kann? Was hindert sie, gerade jetzt die Priorität jener Werte einzuklagen, die nicht an der Börse gehandelt werden, von deren Geltung aber Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivilität abhängen? In unserer Gesellschaft gehört dazu nicht einmal besonders viel Mut. Man müsste es nur ertragen können, von der Mehrheit der Politiker, der Verbands- und Medienvertreter, vielleicht sogar der Bevölkerung als weltfremd belächelt zu werden. Damit befände man sich in bester Gesellschaft, denn auch den Pionieren unserer Freiheit erging es oft nicht anders. Heute, in unserer umfragegläubigen Demokratie, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass nicht jede Mehrheitsmeinung – unabhängig von der Art ihres Zustandekommens – schon demokratisch legitimiert ist. Legitimität und damit bindende Kraft wächst Mehrheitsentscheidungen erst dann zu, wenn sie aus einem freien und ungehinderten Wettstreit der Argumente hervorgehen. Auch wenn es ihnen Spott und Anfeindung einträgt, müssen Intellektuelle heute wieder die Courage aufbringen, sich gegen bloße Stimmungsmehrheiten zu stellen, bei denen genau diese Voraussetzung nicht erfüllt ist. Und sie müssen sich entschlossen an die Seite jener stellen, die darauf bestehen, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Politik, überhaupt alle gesellschaftlichen Teilsysteme haben sich in einer Demokratie öffentlich und nach Wertgesichtspunkten zu rechtfertigen. Es war der Soziologe Helmut Schelsky, der in seinem Buch Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen Mitte der siebziger Jahre den Intellektuellen die Priesterrolle zuschrieb. Das war seinerzeit schon ein Missverständnis. Denn damals wie heute können Intellektuelle ihre Auffassungen nicht als Vertreter einer institutionalisierten Macht beglaubigen. Sie gewinnen ihre Autorität, wenn sie denn noch eine haben, allein aus der Übereinstimmung ihrer Botschaften mit ihrem persönlichen Sein und Handeln. Wenn man schon so hoch greifen möchte, dann gleichen die Intellektuellen eher den Propheten als den Priestern. Und wie die meisten Propheten in der langen Geschichte ungebetener Wahrheitsbezeugung werden sie es sich wohl gefallen lassen müssen, von denen, die heute so versiert auf dem Klavier der Stimmungsdemokratie spielen, dem Spott der Mehrheit preisgegeben zu werden. Projekte haben es an sich, dass sie fehlschlagen und in einem Fiasko enden können. Das gilt auch für das von Habermas so genannte Projekt der Moderne. Es gibt keine Garantie dafür, dass die heikle Balance, die die klassische Moderne anstrebt, auch in Zukunft gehalten werden kann: eine Balance zwischen Egoismus und Gemeinwohl, zwischen Können und Sollen, zwischen Rationalität und Humanität. Aber es gibt auch keinen vernünftigen Grund anzunehmen, die Moderne könne ihre Fehlentwicklungen nicht aus ihrer eigenen geistigen Stärke heraus korrigieren. Doch das geht nur, wenn es in unserer Gesellschaft Instanzen gibt, die eben diese geistigen Grundlagen immer wieder verteidigen. Hier sind die Intellektuellen gefordert. Johano Strasser ist Autor und Politikwissenschaftler. Sein neues Buch »Kopf oder Zahl« erscheint in diesen Tagen bei der Büchergilde.