Kurze Prozesse (VII)

Manchmal ist es nicht das Verbrechen, das im Gerichtssaal Bestürzung hervorruft, sondern das Leben der Angeklagten, das ohne die Tat nie an die Öffentlichkeit gelangt wäre.

Angeklagt: Mandy G., 32 und Nadine E., 34, beide arbeitslos
Delikt: Internetbetrug
Besondere Kennzeichen: menschenscheu und katzenlieb

Mandy G. und Nadine E. haben eineinhalb Jahre lang im Internet Waren bestellt, ohne sie zu bezahlen: Handys, Kameras, Computer, aber auch Medikamente und teuren Wein. Die Produkte boten sie anschließend auf eBay an, lieferten nach der Geldüberweisung aber nur in den seltensten Fällen an die Käufer. Mehr als hundert Einzeldelikte umfasst die Anklageschrift, schon während der halbstündigen Verlesung wird deutlich, dass die beiden Frauen nicht besonders versiert zu Werke gegangen sind: Sie bestellten zwar unter falschem Namen und gaben die Bankverbindungen unbeteiligter Dritter an. Doch die Waren ließen sie sich stets an ihre eigene Adresse schicken, wo sie zusätzliche Namensschilder an Tür und Briefkasten angebracht hatten. Mandy G., die treibende Kraft hinter den Taten, wurde deshalb schon im vergangenen Jahr einmal wegen Betrugs verurteilt und sitzt nun seit einigen Monaten wieder in Untersuchungshaft.

Von den beiden Frauen, blass und verschüchtert, geht eine sonderbare Apathie aus. Sie sind seit fünf Jahren ein Paar, teilen weiterhin ihre Marzahner Wohnung, und Nadine E. hat 2008 sogar ein gemeinsames Kind ausgetragen, gezeugt mit einem Samenspender. Dennoch nehmen sie die ganze Verhandlung über keinerlei Notiz voneinander, tauschen nicht einen einzigen Blick. Nadine E. erwähnt die schwere Behinderung ihres Sohnes und sagt dann lang gar nichts mehr. Mandy G. antwortet auf die Frage des Richters, wie ihr Alltag ausgesehen habe: »Man hat halt erst mal ausgeschlafen und saß viel am Computer.« Und dann spricht sie über die vielen Zuchtkatzen in der Wohnung, die ihr einziger Lebensinhalt seien und einen Großteil des erschlichenen Geldes beansprucht hätten: »Die Katzen haben das schönste Zimmer bei uns, sogar mit Balkon.«

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Als der psychiatrische Sachverständige die Biografie Mandy G.s vorträgt, tritt das eigentliche Delikt endgültig in den Hintergrund. Ihr Leben, eine Abfolge von Schreckens- momenten: als Frühchen geboren, Herzoperationen, mit vier vom Vater vergewaltigt, Epileptikerin seit dem elften Lebensjahr. Nach einer abgebrochenen Lehre in der Gastronomie hat sie nie mehr gearbeitet; ihre ganze Zuwendung gilt seit Langem den Tieren, und als eines der Kätzchen letztes Jahr verendet sei, habe sie versucht, sich umzubringen.

Der Gerichtspsychiater spult diese Lebensgeschichte mit der Routine herunter, mit der ein Spezialist über sein Anschauungsobjekt referiert. Für den Richter dagegen verschiebt sich der Schwerpunkt des Verfahrens spürbar. Dass Mandy G. trotz verminderter Schuldfähigkeit zwei, drei Jahre im Gefängnis bleiben und Nadine E. eine Bewährungsstrafe erhalten wird, ist ohnehin zu erwarten. Mehr als der Kriminalfall interessiert ihn deshalb, wie sich das Leben dieser Frauen abgespielt haben muss, mit ihrem Kind, den Katzen undden nächtlichen Bestellritualen im Internet. Er versucht nun Nadine E. zu befragen, die vor fünf Jahren, nach einem Online-Chat mit Mandy, sofort zu ihr nach Berlin gezogen ist. Ihr Sohn sei »halbseitig gelähmt, mit Klumpfüßen und Epilepsie«, sagt sie, als würde sie eine Patientenakte zitieren, und es ist ein trostloser Zufall, dass das Kind mit seiner nichtverwandten zweiten Mutter die gleiche Krankheit teilt. Der Junge wird derzeit vom Jugendamt versorgt.

»Wie ist denn so Ihr Tagesablauf im Moment, Frau E.?«
»Um acht steh ich auf, trink Kaffee, füttere die Katzen, mach Katzenklos, nachmittags hol ich Zigaretten. Na, und dann muss ich mich ja zweimal in der Woche bei der Polizei melden.« »Das war’s?« »Ja, am meisten beschäftigen mich, sag ich mal, die kleinen Rabauken.« Es ist kaum zu verstehen, dass derart abgeschiedene Menschen lange Zeit ein florierendes kriminelles Unternehmen betreiben konnten. Doch das Internet bietet ideale Bedingungen für die isoliertesten Täter. Jedes technische Medium bringt neue Formen des Verbrechens hervor.

»Hatten Sie jemals Freunde in Berlin?«, fragt der Richter noch, bevor er die Beweisaufnahme schließt: »Nein«, sagt Nadine E., »ich persönlich nicht.«

Illustration: Christoph Niemann