Vom unplanbaren Glück des Daydrinkings

Tagsüber Alkohol zu trinken kann tragisch, aber auch erlösend sein. Unser Autor würde es gern mal wieder versuchen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben.

Foto: Erli Grünzweil

Auf die Frage eines Reporters, wann sie Champagner trinke, antwortete Lily Bollinger: »Ich trinke Champagner, wenn ich froh bin und wenn ich traurig bin. Manchmal trinke ich davon, wenn ich allein bin; in Gesellschaft geht es gar nicht ohne. Wenn ich keinen Hunger habe, mache ich mir mit ihm Appetit, und wenn ich hungrig bin, lasse ich ihn mir schmecken. Sonst aber rühre ich ihn nicht an – außer, wenn ich Durst habe.« Das klingt lustig, aber auch ziemlich ungesund, andererseits: Vielleicht war es nur ein Marketingspruch, immerhin leitete die Dame von 1941 bis 1971 ein Champagner-Imperium. Soll sie sagen, dass sie am liebsten Kamillentee trinkt?

Ich bin das Gegenteil von Lily Bollinger: Stamme nicht aus französischem Adel, trinke nie, wenn ich allein bin, und schon gar nicht, wenn ich Hunger oder Durst habe, dann nämlich bestelle ich eine Pizza und ein Spezi. Überhaupt gerate ich regelmäßig in Gewissensnöte, wenn mir jemand vor 20 Uhr (im Sommer vor 18 Uhr) Alkohol anbietet, ein Glas Wein zum Mittagessen, ein Bierchen am Nachmittag, einen Campari Orange, weil die Sonne gerade verheißungsvoll durch ­irgendein Geäst blinzelt. Ich habe schon Lust, weiß aber aus Erfahrung, dass oft ein zweites Glas hinterherkommt und dass ich danach nicht betrunken, aber unangenehm aufgewühlt oder so melancholisch bin, dass ich zu nichts mehr tauge, und damit meine ich keine beruflichen Termine, die könnte man absagen, nein, ich lese dann auch kein Buch mehr, meine Wahrnehmung ist getrübt, meine Neugier gemindert, der Tag flattert aus, ich liege rum und grüble über Dinge, die nicht in meiner Hand liegen, manchmal brennt die Speiseröhre. Zurück bleibt das ­Gefühl vertaner Zeit.

Auf der anderen Seite erinnere ich mich gut, wie fantastisch es sein kann, Zeit zu verschwenden: mit Freunden am See, ganze Nachmittage lang, ein Kasten Bier im Wasser, der nächste Tag weit weg, die Eltern auch, das Scheiß-Handy noch nicht erfunden. Natürlich musste man irgendwann wieder in die Schule, aber gerade eben nicht und in absehbarer Zeit auch nicht. Niemand wusste, wo man steckt, also noch ein Bierchen aus dem See gezogen, eingedöst, wieder aufgewacht, im Gras rumgelegen, Pusteblumen, Bienen, Wolken, gedehntes Glück.

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So was wie Glück kann nicht geplant werden

Und wo ich so an früher denke, fällt mir auf: Ich kriege es nicht mehr hin. Oder nur noch selten. In den Tag hineinleben, zwei, drei Bierchen am See trinken, die Zeit vergessen, nicht darüber nachdenken, was ich später, morgen, nächste ­Woche zu erledigen habe, welche Mail ich schreiben, welchen Menschen ich zurückrufen, welchen Strafzettel ich jetzt wirklich mal überweisen sollte. Ich trinke weniger als früher, kontrollierter, bewusster, womöglich bin ich reifer geworden. Aber manchmal macht es mich auch kurz traurig, wenn mir bewusst wird, wofür ich die flirrenden Stunden eingetauscht habe, ja bisweilen kommt es mir vor, als sei alles, was ich besitze, das ganze Zeug, das sich im Laufe der Jahre angehäuft hat, die Schuhe aus London, die Steh­lampe aus Japan, die Kunst an der Wand, nur ein dürftiger Ersatz für einen beschwipsten, sonnendurchfluteten Nachmittag am See ohne Termine.

Es ist so eine Sache mit dem ­Alkohol vor Sonnenuntergang. Es gibt ihn als Tragödie, und es gibt es ihn als Erlösung, als eine der letzten Bastionen eines nicht vollständig disziplinierten Lebens. Und gerade denke ich, das sollte ich unbedingt mal wieder machen, mit einem Freund und einem Sechserpack am See rumliegen, womöglich an einem Dienstagnachmittag, da fällt mir auf, dass man sich das gar nicht vornehmen kann, dass das der völlig falsche Ansatz ist, dass es einfach passieren muss, weil so was wie Glück nicht geplant werden kann, weil es sich nur ereignen kann, und seitdem warte ich, und ja, ab und zu schaue ich dabei auf mein Handy.