Push von der New Yorker Schriftstellerin Sapphire ist für schwarze Jugendliche ein literarisches Schlüsselwerk wie Der Fänger im Roggen für die weißen: Das Buch erzählt die Geschichte der 16-jährigen Claireece Jones, genannt Precious, im Harlem des Jahres 1987. Sie ist fettleibig, Analphabetin, zum zweiten Mal schwanger vom eigenen Vater, HIV-positiv, von der Mutter abwechselnd zum Oralverkehr mit ihr gezwungen oder durch die Wohnung geprügelt. Precious versucht der Hölle zu entkommen, indem sie lesen, schreiben und rechnen lernt.
»Ich konnte mich mit Precious identifizieren«, sagt Gabourey Sidibe. »Nicht weil ich misshandelt worden wäre wie sie. Aber ich bin oft gehänselt worden.« Doch nun fehlte ihr das Selbstbewusstsein, um sich für den Film zu bewerben. Zum Glück war ihre Mutter Alice Tan Ridley vom Talent ihrer Tochter überzeugt. Ridley verdient ihren Unterhalt mit dem Singen von Gospels in der U-Bahn-Station am Times Square. Der Tochter hatte sie singen und tanzen beigebracht, doch Gabby, wie sie sie nennt, wollte lieber Psychologie studieren. Am Sonntagabend hatte Ridley ihre Tochter überredet, es zu versuchen. Am Montag fand das Casting statt. Am Dienstag sagte der Regisseur Lee Daniels Gabby Sidibe die Rolle zu. Am Mittwoch kündigte sie ihren Job im Callcenter. Am Donnerstag betrat Sidibe die Probebühne mit ihren Filmpartnern Mariah Carey, Lenny Kravitz und der Komikerin und Moderatorin Mo’Nique, dem schwarzen Pendant zu David Letterman. Kaum ein Jahr später ist sie erklärte Favoritin für den Oscar, Talkshows laden sie als Stargast ein, ihr Foto erscheint auf den Titelseiten.
Gabourey Sidibe spielt die Rolle der Precious nuschelnd und stammelnd; als ein geistig und emotional beschränktes Mädchen mit einer eigenen, primitiven Sprache, die nur noch wenig mit Englisch zu tun hat. Sobald sie die Haustür öffnet, brüllt die Mutter (gespielt von Mo’Nique) auf sie ein, schlägt ihr eine Pfanne auf den Kopf, tritt ihr in den Bauch. Es ist der pure Hass, den Precious stoisch erduldet.
Sie muss sich um ihr Down-Syndrom-Kind kümmern und ein weiteres Baby zur Welt bringen. Sie muss zur Sonderschule gehen – weil ihre Sozialarbeiterin droht, die Sozialhilfe zu streichen. Die Sozialarbeiterin wird von Mariah Carey gespielt, die ungeschminkt im lottrigen Strickmantel kaum zu erkennen ist.
Precious führt das Leben einer Aussätzigen, ignoriert von Fremden, verachtet von Bekannten. Trotzdem spürt man in jeder Sekunde, dass ihr Stolz und ihre Würde intakt sind. Sie will überleben, sie wird überleben. Eine Figur wie Precious haben wir im Kino lange nicht gesehen: der Bodensatz der Gesellschaft und gleichzeitig eine überlebensgroße Heldin. So viel Leid, so viel Grauen, so viel düsterer Realismus – Precious hat nichts gemein mit den Sozialdramen, die Hollywoods Studios jedes Jahr pünktlich zur Oscar-Saison veröffentlichen.
Regisseur Lee Daniels schuf einen bemerkenswerten Film, beeinflusst vom Neorealismus, von den Melodramen, die Douglas Sirk in den Fünfzigerjahren drehte, von Spike Lees Frühwerken. Der Erfolg übertrifft alle Erwartungen: Auf dem Filmfest in Cannes bekam der Film die längsten Standing Ovations in der Geschichte der Festspiele; auf dem Sundance-Festival und den Filmfesten von Toronto, New York, San Sebastian und London gewann er Jury- und Publikumspreise; am Startwochenende spielte er über 100 000 Dollar pro Kino ein, was zuvor noch keinem Film gelungen war – ein dickes schwarzes Mädchen übertrumpft Transformers, Titanic, Batman. Nun ist Precious Favorit für gleich mehrere Oscars, darunter die für das Drehbuch und den besten Film.
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Wenn dieser Stoff in die falschen Hände geraten wäre, hätte ein Desaster passieren können. Aus Furcht, Filmemacher könnten Push zu Kitsch verwursten, hatte die Schriftstellerin Sapphire 15 Jahre alle Angebote für die Rechte an ihrem Roman abgelehnt, bis Daniels ihr Vertrauen gewann – auch weil die Schriftstellerin wusste, dass Daniels ein besonderes Gespür für die Besetzung hat. Das hatte er als Produzent von Monster’s Ball bewiesen, als er gegen großen Widerstand Halle Berry als Hauptdarstellerin durchsetzte. Sie war dem Studio zu schön und prominent gewesen – dank Daniels’ Einsatz bekam Halle Berry den Job und gewann den Oscar.
Für die Rolle der Precious versuchte Daniels die umgekehrte Strategie. Er wollte keine bekannte Schauspielerin auf fett schminken. Er brauchte ein Mädchen, das der Figur aus dem Buch ähnlich sieht und die Rolle spielen konnte, ohne in Sentimentalität abzugleiten. »Aber ich konnte ja schlecht bei Casting-Agenturen in Hollywood anrufen und sagen: Schickt mir mal alle schwarzen 200-Kilo-Mädchen vorbei«, sagt Daniels. »Die gibt es dort ja gar nicht.« Also suchte er in den Fast-Food-Ketten von New York, Chicago und Detroit. Er testete über 500 Mädchen, doch zwei Wochen vor Drehbeginn hatte er die Hauptrolle noch immer nicht besetzt. »Dann betrat Gabby den Raum, riss einen Witz und die Sache war klar.«
Gabourey Sidibes Schauspielerfahrung beschränkte sich bis dahin auf eine Aufführung von Peter Pan an ihrem College in Harlem. Was für ein Naturtalent sie ist, wird erst sichtbar, wenn man sie in einer Talkshow oder einem Interview erlebt. Im Film walzt sie schwerfällig durchs Bild, in Fernsehshows betritt sie die Bühne mit federnden Disco-Schritten, zu denen das Publikum vor Freude grölt. Im Film spricht sie in einem Brei aus Silben, in Interviews wirkt sie so eloquent wie eine erfahrene Entertainerin. Als sie in London ein Reporter bat, ihre
30-Sekunden-Oscar-Rede vorzutragen, antwortete sie: »Das ist doch Quatsch, mein Freund. Trag du doch mal deine Oscar-Rede vor!«
Precious handelt nicht nur vom Dilemma der Afroamerikaner, sondern von Menschen jeder Rasse und Herkunft, die vernachlässigt werden. Es ist kein Zufall, dass der Film im ersten Jahr von Obamas Präsidentschaft so starke Reaktionen auslöst. Der Präsident hat dieses Jahr damit verbracht, die Profite der Wirtschaftselite abzusichern. Unterdessen leidet keine Bevölkerungsgruppe heftiger unter der Rezession als die Schwarzen. Zwei von fünf schwarzen Kindern leben in Armut. Drei von fünf schwarzen Schulabgängern können nicht gut genug lesen und rechnen, um an der Supermarktkasse zu arbeiten. Schwangere Teenager und häusliche Gewalt gehören zum Alltag in schwarzen Stadtbezirken wie Brathühnchen und Cola. Alles wie gehabt.
In der Woche, als Precious in Amerika in den Kinos anlief, fand Clevelands Polizei elf weibliche Leichen. Sie waren über Monate hinweg in einem Haus verwest. Wegen des Gestanks musste die benachbarte Metzgerei geschlossen werden. Ein Sprecher erklärte, man könne nicht ermitteln – weil niemand die Frauen vermisse. Sie waren schwarz.
Menschen wie ihnen setzt Lee Daniels ein Denkmal und das Gesicht dieses Denkmals ist das von Gabourey »Gabby« Sidibe.
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Auf seiner Recherche hat Lars Jensen in New York auch das Restaurant „Mama's Fried Chicken" in der 137. Straße besucht, einen der Drehorte von Precious. In Film und Buch klaut Precious einen Eimer voll Brathühnchen - eine Szene, über die Universitätsprofessoren schon ganze Seminare abgehalten haben: Welche Symbolik transportiert diese Szene, welches Bild der Schwarzen zeichnet sie? Seit letzter Woche steht auch die Buchvorlage Push wieder auf der Bestsellerliste. Wann der Film in Deutschland startet, steht noch nicht fest. Ausschnitte sind unter www.weareallprecious.com zu sehen.
Fotos: ap, Reuters