Duze ich Sie? Oder sieze ich dich?

Wenn die Anrede unklar ist, versucht man, sprachlich um diese Frage herumzukommen – und landet in absurden Dialogen.

Wer die direkte Anrede vermeidet, fährt mit der Sprache mehr Kurven als Rennfahrer in Monaco mit ihren Autos.

Es ist ein einziger Eiertanz. Jedes Mal. Smalltalk an sich ist kein Problem, ein Thema findet sich immer. Grausam wird es, wenn eine ganz entscheidende Information fehlt: Siezen wir uns, oder sind wir per Du? Ich plaudere dann scheinbar locker über Wetter, Urlaubspläne, Filme – und arbeite im Hinterkopf alle Begegnungen der Vergangenheit durch. Der Ton klingt vertraut, aber das heißt nichts. Den Vornamen weiß ich, aber das beweist nichts. Du, Sie, ich komme nicht drauf. Vielleicht wurde es nie richtig geklärt. Gibt es ja im Alltag ständig: entfernte Kollegen, Nachbarn, Eltern von Schulfreunden der Kinder – die ganze Welt ein einziges Du/Sie-Rätsel.

Also bleibt mir nichts übrig, als eine anstrengende Fremdsprache zu verwenden. Die Ohne-Du-oder-Sie-Sprache. Die Drumrum-Sprache: nur Formulierungen, mit denen ich mich um die Anrede drücken kann. Ich frage nicht: »Ach schön, Urlaub in Kanada, wo genau waren Sie denn da?«, sondern: »Ach schön, Kanada, und wo fährt, äh, man da so im Einzelnen hin?« Ich vermeide »Hast du den neuen Hader-Film gesehen?« mit einem pseudo-lässigen »Schon den neuen Hader-Film gesehen?« Ich umgehe »Waren Sie dieses Jahr auf dem Oktoberfest?« und frage in hilflosem Passiv: »Na, wurde heuer schon ordentlich auf der Wiesn gefeiert?« Ich verrenke mich mit jedem Wort und höre mich an wie ein Vollidiot.

Satz für Satz ein Kampf, damit mir bloß kein versehentliches Du auskommt. Das wäre unangebracht, falls wir noch beim Sie sind. Aber bitte auch kein förmliches Sie – falls wir längst beim Du waren, komme ich ja total abweisend rüber. Ich hangle mich also von »man« zu »man«, es ist wie Tanzen ohne Berühren. Nein, schlimmer, ein Fechtkampf, bei dem man immer gezielt neben den Gegner stechen muss.

Meistgelesen diese Woche:

Und während ich improvisiere, horche ich hoch konzentriert in jedes Wort des anderen rein: Verdammt, warum sagt der nicht einen einzigen Satz, an dem ich erkennen könnte, ob wir uns duzen oder siezen? Red mich halt mal an, um Gottes willen! Aber da kommt nichts. Geht es der oder dem anderen vielleicht genau wie mir? Drücken die sich auch verzweifelt?

Es gibt leider keine würdevolle Möglichkeit, die Du/Sie-Lage zu klären. Direkt fragen? Könnte so wirken, als hätte man den anderen nach der jüngsten Begegnung sofort vergessen. Unhöflich. Einfach das Du anbieten? Aber was, wenn das Gegenüber enttäuscht sagt, wir waren doch längst beim Du, erinnerst du dich etwa nicht …? Unhöflich.

Kommt ja noch dazu, dass man das Du nicht einfach jedem anbieten darf. Hat man einen älteren Herrn vor sich, dann darf das nur er, zumindest gemäß den klassischen Umgangsformen (und wer legt Wert auf solche Formen? Ältere Herren). Wer meint, die Frage sei doch im 21. Jahrhundert längst von gestern, kann mal in der FAZ nachschlagen, dem Fachblatt für ältere Herren. Nicht lang her, da druckte die Zeitung ein großes Schaubild zur Frage, wer wann wem das Du anbieten darf. Die einzige Kategorie übrigens, deren Zugehörige ohne jede Alters-, Geschlechts- oder Herkunftseinschränkung das Du anbieten dürfen, hieß »Chef«.

Dass wir uns nicht falsch verstehen, ich habe nichts gegen das »Sie«. Ist doch großartig, dass es im Deutschen die Möglichkeit gibt, zwischen einem förmlichen und einem freundschaftlichen Umgang zu unterscheiden. Als der verrückte Typ, der bei uns im Viertel mit allen Streit hat, mich mal »du Arschloch« nannte, konnte ich höflich lächelnd antworten: »Das haben Sie jetzt eher einfach formuliert.« Ich mag es auch, als Kunde in einem Geschäft gesiezt zu werden – dass mich die Mitarbeiter von Apple ungefragt niederduzen, empfinde ich als übergriffig. Und als Ikea vor einigen Jahren Computerterminals für Kundenwünsche aufstellte, habe ich sofort mit dem größten Vergnügen eingetippt: »Bitte duzen Sie mich nicht immer.«

Die Hamburger haben, wie man weiß, eine bizarre Zwischenlösung erfunden, das sogenannte hanseatische Sie: siezen, aber mit Vornamen ansprechen. Es mag an meiner Herkunft liegen (ich bin Münchner), aber ich finde das sagenhaft albern. Vor Jahren habe ich mal in einer Redaktion gearbeitet, in der sich alle geduzt haben, nur der Chef ließ sich hanseatisch siezen. Die Konferenzen hörten sich völlig absurd an, weil alle ständig zwischen »du« und »Sie« wechselten, je nachdem, in welche Richtung sie redeten. Und wenn man alle auf einmal ansprechen wollte, war nie klar, ob man »ihr« oder »Sie« sagen soll.

In Bayern gibt es ja für die Du/Sie-Momente eine Neben­lösung, auf die ich ab und zu gern ausweiche. Wenn man hier Menschen siezt, aber im Plural anspricht, gilt »ihr« oder »euch« als in Ordnung. Aber immer, wenn ich das Problem auf diese Art zu lösen versuche, endet es damit, dass ich mein Gegenüber wie betäubt alles nur noch im Plural frage. »Habt ihr gute Erfahrungen gemacht mit so einer … Ein-Mann-Radtour?« Führt irgendwie auch nicht weiter.

Na ja, vielleicht ist das alles sowieso zu kompliziert gedacht. Im Umfeld des SZ-Magazins gibt es einen Fotografen, der aus Prinzip jeden duzt, den er fotografiert. Ich war mal mit ihm für eine Reportage unterwegs, wir trafen uns mit millionenschweren Bauherren und Investoren. Ich sagte dann also: »Herr Dr. Brödersen, was genau planen Sie mit der Investition von 74 Millionen Euro auf diesem Areal?« Und der Fotograf brummte von links: »Dietmar, kannste dich noch mal ’n bisschen neben das Fenster stellen, dann hab ich dich schön im Bild.«

Kein Einziger von denen hat sich beschwert.