SZ-Magazin: Sie sammeln seit fast 30 Jahren historische Amateuraufnahmen. Wann sind Sie auf das erste Foto mit Eisbär gestoßen?
Jochen Raiß: Das war zu meiner Studienzeit in Frankfurt, als ich mit dem Sammeln begonnen habe. Ich bin damals öfter auf den Flohmarkt gegangen. Irgendwann fiel mir dort eine alte Fotografie in die Hände, ein Mann mit Zigarette und Hemd. Ich nutzte sie als Lesezeichen für einen Roman. Dann habe ich mir das nächste Lesezeichen gekauft, und noch eins. Langsam begann ich die Lesezeichen als Fotografien wahrzunehmen – und sie zu sammeln. Durch Zufall entdeckte ich schon bald meinen ersten Eisbären.
Wieso haben sich die Leute damals ausgerechnet mit Eisbären fotografieren lassen?
So richtig geklärt ist das nicht. Es war wahrscheinlich die Idee von Fotografen, Anfang der Zwanzigerjahre. An deutschen Seebädern, vor allem der Ostesee, tauchten die Eisbären häufig auf. Die Amateurfotografie war damals noch nicht so verbreitet, nur wenige Menschen hatten einen eigenen Fotoapparat. Ich vermute, man wollte eine Erinnerung an die Urlaubszeit haben oder sie an Freunde verschicken. Viele Bilder haben Postkartengröße. Und die Fotografen verdienten vermutlich gut daran, ihre Assistenten in solche Kostüme zu stecken und die Bilder dann an Touristen zu verkaufen. Nur beliebt war der Job sicher nicht. Wer möchte schon bei 30 Grad im Eisbärenkostüm rumlaufen?
Steckte dahinter vielleicht derselbe Tiertrend, wie wir ihn heute vom Lama oder Flamingo kennen?
Ein Eisbär am Strand war damals natürlich etwas sehr ungewöhnliches. Der maximale Kontrast. Die meisten Menschen hatten noch nie zuvor so ein Tier gesehen. Noch heute würde er wahrscheinlich Aufmerksamkeit erregen.
Warum sieht man auf den Fotos meistens Frauen oder Kinder, aber keine Männer?
Oft hat der Mann fotografiert, denn die Fotografie lag zunächst in Männerhand. Sie haben die Kamera – genauso wie das Automobil – nicht gerne an Frauen abgegeben. Das bemerke ich immer wieder auf Fotos aus dieser Zeit. Dies widerspricht meiner Fotografen-Theorie, aber vielleicht gab es daneben ja auch Eisbären-Darsteller, die sich von Urlaubern fotografieren ließen.
Was fasziniert Sie an dem Eisbär-Motiv?
Man muss doch schmunzeln. Oft wirken die Bilder mit den Eisbären wie ein Familienporträt, dadurch werden sie noch skurriler. Ich habe schon immer nach dem Ungewöhnlichem gesucht, alles was mit Menschen zu tun hat und unüblich ist, weckt meine Sammelleidenschaft. Zu den Bildern habe ich mir seit jeher Geschichten ausgedacht. Ich kenne die Menschen auf den Fotos nicht, ich weiß nichts über ihr Leben – so sind meiner Fantasie keine Grenzen gesetzt. Wenn ich neue Motive entdecke, geht bei mir sofort das Kopfkino los. Jedes Mal ein kleines Erlebnis.
Hängen die Eisbären auch bei Ihnen an der Wand?
Eins hängt tatsächlich bei mir zu Hause, das mein Lieblingsmotiv und das Titelbild des Buches: eine Frau, die fröhlich mit dem Eisbär am Strand tanzt. Ein Fotobuch war nie meine Absicht, lange Zeit habe ich nur für mich gesammelt, zum reinen Vergnügen. Meine Familie kennt es schon: Mit einem neuen Fund komme ich mit strahlendem Gesicht ins Haus. Bei meiner ersten kleinen Ausstellung stellte ich mit Freunde fest, dass auch andere Menschen begeistert von den alten Bildern waren. Das Private macht ihren Reiz aus.
Woher bekommen Sie immer mehr Bilder für Ihre Sammlung?
Die finde ich fast ausschließlich auf Flohmärkten oder Trödelläden. Dort verbringe ich noch heute viele Wochenenden. Manchmal schicken mir Leute aber auch welche zu.
Manche Fotos sind wirklich ganz schön skurril. Da reitet zum Beispiel eine Frau in Badeanzug auf dem Eisbären durch den Sand. Oder eine Runde sitzt in einer Kneipe zusammen und trinkt Bier mit dem Bären.
Das macht sie aber auch so originell – und lustig. Je witziger und seltsamer, desto mehr mag ich die Bilder. Natürlich werden so auch die Geschichten im Kopf viel unterhaltsamer. Jeder kann selbst etwas hineininterpretieren. Was ist auf dem Foto zusehen? Und wer? Wie gucken die Menschen? Was machen sie? Welche Rolle spielt der Eisbär?
Und: Was hat er an diesen seltsamen Orten verloren?
Meist taucht der Eisbär am Strand auf, was man auf den Fotografien fast für Schnee halten könnte. Schnee und Sand haben eine ähnliche Haptik, und sind doch ganz anders.
Die Eisbärenkostüme sind ziemlich aufwendig. Wo gab es die zu kaufen?
Wenn man genau hinschaut, sieht man Unterschiede bei den Kostümen. Was daran liegt, dass man sie nicht einfach im Laden kaufen konnte. Es waren vermutlich Maß- und Sonderanfertigungen.
Sammeln Sie heute noch?
Natürlich! Das wird nie aufhören. Ich finde immer wieder neue Fotos mit Eisbären drauf, das letzte erst vor ein paar Wochen. Mittlerweile sind es schon über 80.
Heute kommt man bei Eisbären nicht drum herum, an den Klimawandel zu denken.
Gerade habe ich in der Tagesschau eine »Fridays-for-Future«-Demonstration gesehen, dort wurde ein Bild eingeblendet, auf denen junge Menschen ein Plakat mit einem Eisbär hochhielten. Der Eisbär ist zum Symbol geworden. Schon öfter wurde ich darauf angesprochen, aber ich ziehe diese Verbindung zu meinen Bildern nicht. Auch wenn ich damit die Realität ausblende, versinke ich lieber in meinen eigenen Geschichten. Vielleicht ist das Betrachten der Fotos deshalb so schön.
Der Hamburger Jochen Raiß, 49, sammelt schon sein ganzes Leben lang alte Amateurfotografien. Sein Fotobuch Eisbären erscheint m Verlag Hatje Cantz.