Bin ich in Wahrheit komisch? Manchmal, nachts, wenn ich wachliege, finde ich: Ja. Da benenne ich zum Beispiel den Renault Mégane in Renault Végane um, Sitze garantiert ohne Leder, dafür mit Bremsautomatik für Tiere. Niemand da, der grunzen könnte: »Seehr witzig.« Ich bin mir wohlwollendes Publikum genug. Die Nacht ist meine beste Zeit. Da lebe ich mein Leben ohne meine 17 Schals und 38 Pullover, ohne diesen ganzen Ballast von Geflügelschere und Vorräten von Doppelsteckern im Wandschrank ganz hinten und tausend Büchern, von denen 960 nie angefasst werden. Nachts, wenn mich keiner in meinem löchrigen T-Shirt sieht, bin ich mir selbst genug, die Königin in meinem kleinen Reich, und regiere meinen Mut. Am Tag bleibt davon wenig. Manchmal habe ich meine Bequemlichkeit so, so satt.
Am Tag kennt man mich als: Kollegin, Freundin, Ehefrau, Mutter, Nachbarin, die die Erwartungen, die man an sie stellt, mal gut erfüllt, mal nicht so gut. Nie würde ich was mit Puffärmeln anziehen oder einen langen schwarzen Ledermantel mit aufgesticktem Totenkopf, sondern einen meiner 38 Pullover. V-Ausschnitt geht gerade gar nicht, kommen nur noch 28 in Frage. Die Codes meiner sozialen Klasse habe ich verinnerlicht: Keine Hausschuhe in verschiedenen Größen für Gäste bereitstellen, Prospekte mit Sonderangeboten von Drogeriemärkten unbesehen wegschmeißen, keine gerafften Spitzengardinen anbringen, sein Kind niemals Kevin nennen, selbst wenn einem der Name gefiele, beim Abendessen über die Wirkung von Goji-Beeren diskutieren können und automatisch verzweifelt stöhnen, wenn jemand »Plastikmüll in den Weltmeeren« oder »Klimawandel« sagt.
Und immer wieder frage ich mich: Bin das wirklich ich, oder rattert da eine Art Maschine all die Rollen runter, auf die ich programmiert und konditioniert bin? Wäre ich eine andere oder sogar eine völlig andere, wenn ich diese Ketten sprengen würde, auf niemanden Rücksicht nehmen müsste, frei von sozialer Kontrolle wäre? Wer bin ich, wenn mir keiner zusieht?
Ich bin privilegiert. Worüber also klage ich? Muss mir niemand sagen, dass es viel entbehrungsreichere, elendere Leben gibt. Nicht nur in Haiti, sondern um die Ecke. Anstrengend sind die Spielregeln, die ich zu befolgen habe, möchte ich nicht aus meiner sozialen Klasse rutschen. In jeder anderen aber, da bin ich sicher, herrschen ähnlich starre und enge Grenzen wie in meiner kleinen Welt. Ich kenne sie nur nicht. Natürlich bin ich gegen Ohrfeigen bei Kindern und für Flüchtlinge. Ein aus Versehen vertauschtes »für« und »gegen« ließe das Bild sofort zusammenbrechen. Hä? Gegen Flüchtlinge? Für Ohrfeigen? Also Pegida-Anhängerin, AfD-Wählerin oder noch schlimmer? Ausrutscher werden geahndet oder müssen wortreich, besser noch: ironisch gebrochen erklärt werden. Ich bin, was ich vorgebe zu sein. Mein Leben, korrekt, aber langweilig wie ein Manuskript, das keinen Verlag findet. Zu Recht. Habe ich überhaupt die Wahl, eine andere zu sein, als ich bin?
Einmal im Jahr versuche ich mich zu erforschen: Bin ich, wenn niemand hinsieht, wilder, frecher, unanständiger, unkorrekter, ungerechter, unzuverlässiger, unverschämter, unberechenbarer? Oder viel netter, warmherziger, barmherziger, demütiger? Und endlich mal mutig? Zwei Wochen im Jahr spielt es keine Rolle, ob ich um neun, um zwei oder gar nicht ins Bett gehe, ob ich um neun, um zwei oder gar nicht aufstehe, ob ich morgens Bier trinkend in der U-Bahn sitze und laut rülpse. Diese zwei Wochen haben sich eher zufällig ergeben. Vor vier Jahren hatte ich für zwei Wochen Urlaub eine Wohnung in Berlin gemietet, mein Mann sagte in letzter Minute ab, ich fuhr dennoch. Seither fahre ich einmal im Jahr allein fort. War zweimal in Wien, einmal in Stockholm, Städten, in denen ich Freunde habe, aber nicht zu viele. Dieses Jahr liebäugle ich mit Hamburg.
In diesen zwei Wochen könnte ich: anonymen Gruppensex machen, Drogen nehmen, geheime Voodoo-Treffen besuchen, dreimal am Tag auf einem Holzscheit kniend den Rosenkranz beten. Ich könnte die Sau rauslassen oder wenigstens das Ferkel. Ich könnte mir Strasssteinchen auf meine Fingernägel kleben, ein absolutes No-Go fünfzig Wochen im Jahr. Aber nicht mal das tue ich.
Meine Abenteuer sehen so aus: Ich schlafe, so lange ich will, also längstens bis halb neun. Denn, das weiß ich inzwischen, je älter man wird, desto weniger Schlaf braucht man. Meistens trinke ich dann Tee, ohne mich gewaschen zu haben, lese meine Mails, starre Löcher in die Luft. Das ist fast die angenehmste meiner kleinen Fluchten: Gedanken zu Ende denken, nichts denken, Quatsch denken. Wenn der Teufel mich reitet, surfe ich anschließend im Internet mit halb offenem Mund, gehe gegen zwölf ins Café und schaue mir um 15 Uhr auf Vox Shopping Queen an. Erleichtert, mich für diesen Unfug nicht rechtfertigen oder schnell ausschalten zu müssen, wenn jemand reinkommt. Das Aufregendste an diesem zweiwöchigen Leben ist vielleicht, dass ich hin und wieder wage, bei offener Tür aufs Klo zu gehen, und zu meiner uralten Gewohnheit zurückkehre, nachts zwischen elf und zwei Uhr zu schreiben, also zu arbeiten. Frech, was? Was mich frösteln lässt: Ich fühle mich frei und selbstbestimmt dabei. Dieses bisschen soll alles gewesen sein?
In Fällen, bei denen man mit Nachdenken nicht weiterkommt, jene zu fragen, die sich vorrangig mit diesem Thema beschäftigen, gehört zu den Vorteilen meines Berufes. Um es gleich zu sagen: Die Antworten der Neurobiologen und Psychologen machen wenig Mut, dass der Mensch viel an sich ändern könnte. Schon das erste, wenngleich nicht wichtigste Stichwort, das mich in den Gesprächen mit den Wissenschaftlern hellhörig werden ließ, hatte ich zuvor gar nicht in Erwägung gezogen: Geld. Würde ich, wenn ich die Piepen hätte, statt Löcher in die Luft zu starren, um die Welt jetten oder trampen, heute auf den Philippinen im Baumhaus, morgen auf Java im Luxushotel wohnen oder Analphabeten in Guatemala das Lesen beibringen? Egal, ich hab das Geld dafür eh nicht. Weiter. Dieter Frey, Psychologe an der Universität München, sagt, man müsse sich fragen: »Wenn ich die Chance habe, nur ich sein zu dürfen – wäre das ein Dauerzustand, oder hole ich nur bestimmte Defizite nach, die im Alltag zu kurz kommen?« Uups, da klingelt was in mir. Aber jetzt zum Kern.
Fast alles, was wir tun, ist vorgegeben durch Geburt und Erziehung, der Spielraum gering. Ich bin nicht wie Mowgli unter Wölfen aufgewachsen, sondern in diesem Land, zu einer Zeit, in der es weder Krieg noch Hunger gab – das allein hat viele Weichen meines Lebens gestellt. Dazu kommen die Herkunft meiner Eltern, für die ich nichts kann und für die sie nichts können, und der Umstand, dass diese Eltern beschlossen haben, ihre Kinder mögen eine höhere Schule besuchen und dann – fast folgerichtig – studieren. Ich hatte andere Freunde als Kinder in Asylbewerberheimen, andere Interessen als viele Hauptschüler, andere Ziele als die meisten Mütter bei Frauentausch auf RTL2. Auszubrechen aus meinem Lebenslauf wäre bestimmt möglich gewesen, nur, welcher Zeitpunkt wäre der richtige gewesen? Und was hätte ich mir beweisen wollen? Und wohin wäre die Reise dann gegangen? Ich kann doch nicht in jeder Minute mein Leben in Frage stellen.
Einmal, als ich Praktikantin war, schickte mich die Zeitung in ein Jugendheim, es gab Zoff zwischen zwei Gruppen von Jugendlichen. Nach den pädagogisch gehaltvollen Reden des Sozialarbeiters sagte einer über die andere Gruppe: »Reden. Die wollen immer nur reden. Ich schlage denen eine in die Fresse, dann wissen sie auch, was ich von ihnen halte.« Spätestens da war mir klar: Auch ich gehöre zu denen, die immer nur reden wollen. Ich kann genauso wenig aus meiner Haut wie der, der am liebsten zugeschlagen hätte. In seiner Gruppe hat er sich damit Respekt verdient. In meiner hätte ich ihn verloren.
Gerhard Roth, Neurobiologe und Hirnforscher an der Universität Bremen, sagt, dass nur etwa zwanzig Prozent unserer Persönlichkeit als Erwachsene noch formbar seien: »Unsere Grundpersönlichkeit stabilisiert sich bis zum 16. bis 20. Lebensjahr. Danach haben wir nur noch begrenzte Möglichkeiten, die – von starken und meist negativen Ereignissen einschließlich Alterungsprozessen abgesehen – nicht mehr den Kern unserer Persönlichkeit betreffen. Das ist auch gut so, denn jede Gemeinschaft kann nur existieren, wenn das Verhalten ihrer Mitglieder einigermaßen verlässlich und vorhersehbar ist.« Wie meines.
Fragebögen, die testen, welche Persönlichkeit man wirklich ist, bedienen sich fast alle der sogenannten »Big Five«, eines international angewandten Standardmodells. Die fünf großen Merkmale, die eine Persönlichkeit prägen, lauten: Offenheit (für Erfahrungen), Gewissenhaftigkeit (auch Perfektionismus), Geselligkeit, Verträglichkeit (Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, Empathie) sowie Neurotizismus (seelische Verletzlichkeit). In diesem Test muss man sich selbst einschätzen und ankreuzen, wie stark je zwölf Feststellungen aus den fünf prägenden Wesensmerkmalen auf einen zutreffen. Etwa der Satz: »Ich komme gut mit anderen aus, auch wenn sie anderer Meinung sind.« Stimme ich dem ganz, gar nicht, ein wenig oder sehr stark zu? Die Auswertung aus einem Internet-Schnelltest sagt über mich zum Beispiel, dass meine Verträglichkeit (darunter fallen Rücksichtnahme und Empathie) bei 48 Prozent liege und damit um 22 Prozent höher als der Durchschnitt aller, die den Test gemacht haben. Doch Dieter Frey, der Psychologe, gibt zu bedenken, dass Selbsteinschätzung nicht Fremdeinschätzung sein muss: »Oft ist man sich selbst der Blindeste, mit einer vollkommen verzerrten Wahrnehmung im Sinne von: Was dient meinem Selbstwert oder meinen Interessen, welche Stereotypen oder Vorurteile habe ich über mich selbst?« Man könne auch sagen, wir alle sind Schauspieler, die versuchen, jeden Tag eine gute Vorstellung zu geben. By the way: Ich habe eine Schauspielschule besucht. Mit Diplomabschluss.
Es gibt natürlich nicht nur Gerhard Roth und Dieter Frey, sondern auch Sigmund Freud und die Behavioristen oder die Selbstwahrnehmungstheorie des US-Sozialpsychologen Daryl J. Bem. Und alle hätten etwas anderes geantwortet auf die Frage: Wer bin ich in Wahrheit, nämlich wenn ich die Wahl habe zu machen, was ich will? Freud hätte keine direkte Antwort gegeben, sondern etwas Kompliziertes gesagt, über das Selbst, das Über-Ich und das Es. Kurzfassung: Um durchs Leben zu kommen, meint Freud, müsse man verdrängen, verniedlichen, projizieren. Der Behaviorismus wiederum, die Theorie der Wissenschaft des menschlichen und tierischen Verhaltens, sieht laut Definition das Gehirn als »Black Box« an, deren innere Prozesse nicht von Interesse sind. Behavioristen sind davon überzeugt, dass die Motive für das menschliche Handeln einer Kombination von ererbten Instinkten und äußeren Reizen entspringen, auf die der Einzelne keinen Einfluss hat.
Und die »Selbstwahrnehmungstheorie« von Bem besagt, dass wir auf vielen Gebieten keinen Zugang zu unseren wahren Gefühlen und Absichten haben, sondern unser Verhalten in verschiedenen Situationen beobachten und daraus auf unsere Einstellung schließen. Beispiel: Jemand fragt mich, ob ich Fritz mag. Ich hatte bis jetzt keine Meinung zu ihm, aber da ich häufiger mit ihm telefoniert und gemailt habe, schließe ich aus meinem Verhalten, dass ich ihn mag. Wenn das auch nur einigermaßen stimmt, wie soll ich dann wissen, wer ich wirklich bin?
Was mich trösten könnte: Die halbe Welt der Psychologie versucht, meine Frage zu beantworten, ohne sich einig zu sein. Fast einhellig allerdings ist sie der Meinung, dass nur Katastrophen den Menschen essenziell ändern könnten: Wenn meine Kinder ermordet würden, beispielsweise. Bitte, daran mag ich nicht mal denken. Und so habe ich mich bei all der Auswahl für die Einsicht des Münchner Psychologen Dieter Frey entschieden: In meiner jährlichen Auszeit hole ich die Defizite nach, die im Alltag zu kurz kommen. Ich schlafe bis halb neun und starre Löcher in die Luft. Mag sein, es ist die bequemste Antwort auf eine komplizierte Frage. Dann soll es so sein.
Fotos: Blaise Cepis