Vollversammlung

In jeder Küche gibt es einen rätselhaften Ort, wo sich alles anhäuft, was eigentlich irgendwo anders hingehört. Woher kommt diese magische Anziehungskraft?

Schlosslose Schlüssel, pappige Bonbons – und im ganzen Haus niemand, der sich drum kümmert.

Illustration: Sarah Mazzetti

Ein Rätsel, diese Schraube. Wo gehört die hin? Wo muss die dran? An eins unserer Fahrräder? Bricht da demnächst ein Schutzblech weg? Oder stammt die von einem Möbelstück? Hm. Weiß grad nicht. Am besten erst mal in die Küche legen. Neben das Spülbecken. Zu den anderen tausend Sachen, von denen ich im Moment keine Ahnung habe, wann wo wie aufräumen oder reparieren oder was auch immer.

In jeder Küche, in der ich je war, gibt es diese eine Ecke, in der sich alles sammelt. Wie von selbst. Bei den einen ist es die Arbeitsfläche neben dem Kühlschrank, bei den anderen ein Fensterbrett. Bei den dritten ist es die Kante der Eckbank, und wieder andere haben extra irgendwo eine kleine Schale stehen, in die sie alles legen, was im Moment noch nicht richtig irgendwo hingehört. Ich nenne diesen Bereich mal: die Ecke des Grauens (EdG).

Wodurch entsteht die EdG? Ich kenne mich mit Quantenmechanik nicht aus, aber da gibt es den Begriff von der kleinstmöglichen theoretisch erreichbaren Unsicherheit. Bei den Gegenständen in der EdG kann man sagen, die Unsicherheit ist größtmöglich. Niemand in der Familie weiß oder – noch viel häufiger – niemand will sich gerade damit beschäftigen, wo das Zeug hin soll. In den vergangenen Wochen lag an dieser Stelle neben unserem Spülbecken:

Meistgelesen diese Woche:

– 1 Schlüssel (Von welchem Schloss?)

– 1 Merkzettel (»Do Kto!« – was soll das heißen?)

– 1 angebissener Apfel (Hey, bitte, wer hat den da liegen lassen?)

– 1 Handy (Ach, daaaa ist es!)

– 1 Apotheken-Rezept (Stimmt, da muss ich mal vorbeigehen)

– 4 Münzen (Wo kommen die jetzt her?)

– 2 ungeöffnete Briefe (Sicher Rechnungen, später schauen)

– 1 abgebrochener Griff (Ist das Playmobil?)

– 2 lose Kugelschreiber (Wetten, dass die beide nicht gehen?)

– 3 Post-its, die sich irgendwo abgelöst haben (»Steuer 2018«)

– 1 loser Knopf (Welche Jacke bei uns hat bitte rosa Knöpfe?)

– 1 ausgeliehenes Buch (Ups, seit Monaten nicht zurückgegeben)

– 1 angebissener Schokoriegel (Kinder, schaut ihr mal kurz?)

– 1 Schraube (Die Schraube, genau)

Es gibt Tage, da findet sich in der EdG praktisch ein kompletter Hausstand. Jeder Versuch, für den Kram andere Orte zu finden, ist zum Scheitern verdammt. Der ganze Haufen ein Haufen offener Fragen. Die großen Probleme der Philosophie, kondensiert auf einen Wirrwarr neben der Spüle. Wohin soll das? Woher kommt es? Wohin gehen wir?

Und mit jedem Tag, den die Sachen da liegen, verblasst die Erinnerung daran, dass man eigentlich aktiv werden wollte

Das Problem ist: Man gewöhnt sich dran. So, wie sich manche Fragen des Lebens nie klären, liegt da halt was. Schon ewig. Mal mehr, mal weniger. Und mit jedem Tag, den die Sachen da liegen, verblasst die Erinnerung daran, dass man eigentlich aktiv werden wollte. Die EdG wird zum Ort des ewigen Übergangs, der Unentschlossenheit, jetzt und immerdar. Peter Sloterdijk hat mal geschrieben, Leben lernen heiße, »durch eine Schule des Schwebens gehen«. Denn »Schweben heißt: weder-noch sagen können«. Bei uns neben dem Spülbecken liegen keine Sloterdijk-Bücher herum, aber die ganze Familie sagt ständig weder-noch. Weder räume ich den angebissenen Schokoriegel auf, noch wirft meine Frau die Kugelschreiber weg. Weder merken meine Kinder, dass die halbe Küche voll Spielzeug ist, noch finde ich raus, wozu diese leidige Schraube gehört.

Um ein Missverständnis auszuräumen – es geht hier nicht zwingend um Unordnung. Im Gegenteil, eher um ein eigenes Ordnungsprinzip. Vergleichbar dem Desktop am Computer: Da liegen bei den meisten Menschen die Dateien, an denen sie gerade noch arbeiten, auf die sie bald wieder zugreifen wollen. All das also, was noch nicht in einen Ordner sortiert werden kann.

Und wie beim Computer-Desktop gilt auch in der EdG: Zeige mir deine Ecke des Grauens, und ich sage dir, wer du bist. Ein diskreter Blick, und man weiß, wie jemand tickt, was eine Familie beschäftigt, welche Themen geradee in einem Haushalt virulent sind: Strafzettel, Einkaufslisten, kaputte Kleingeräte, Schulverweise, Notizzettel … Oft ist gleich klar, welche heiklen Themen man hier besser nicht anspricht.

In den extrem seltenen Fällen, in denen keine EdG zu sehen ist, gilt das siebzehnte Gesetz der Quantenmechanik: Es gibt sie trotzdem mit der größtmöglichen Sicherheit – sie ist bloß irgendwo versteckt, hinter einer Schranktür oder in einer Kommodenschublade.

Was ich aber wirklich nie in freier Wildbahn beobachtet habe (und ich wette, nicht mal David Attenborough), ist die Option, dass es in einer Wohnung absolut keine EdG gibt. Sollte das wider Erwarten doch mal irgendwo der Fall sein, dann bitte den Bewohnern mit größtmöglicher Vorsicht begegnen. Menschen, die nichts herumliegen lassen, haben etwas zu verbergen.