Ich stand im Zeitungsladen an der Kasse, vor mir auf dem Boden lag ein 1-Cent-Stück, und zwar: zwischen den Füßen meines Vordermanns. Er kaufte einen Stapel Magazine und packte sie umständlich in seinen Rucksack, ich bezahlte meine Zeitung, er rührte sich nicht vom Fleck. Noch drei Minuten, dann würde mein Zug fahren, nur: Ich konnte die Münze auf keinen Fall liegen lassen. Ich versuchte, Zeit zu schinden, bat um eine Quittung, bekam sie – er rührte sich nicht. Ich hatte keinen Grund mehr, vor der Kasse stehenzubleiben, und: der Zug! Ich atmete ein. Dann ging ich zum Ausgang, langsam. Draußen überholte mich der Mann. Ich stürzte zurück in den Laden, die Münze glänzte im Neonlicht, ich bekam sie auf den Fliesen nicht zu fassen, es dauerte ewig, ich spürte die Blicke der Umstehenden in meinem Rücken. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Kassiererin, ha!, da hatte ich sie, ein Glück. »Alles gut«, sagte ich und lächelte, dann rannte ich zum Zug. Ich erwischte ihn gerade noch.
Ich bin nicht verrückt, ich weiß nur, dass 1-Cent-Stücke Glück bringen, wenn man sie findet und aufhebt. Lässt man sie liegen, bringt das Unglück, findet man ein 2-Cent-Stück und hebt es auf: Unglück, verliert man ein gefundenes 1-Cent-Stück: Unglück. Natürlich versuche ich alles, um so viel Glück und so wenig Unglück wie möglich zu haben.
Ich gehe Umwege, um an vielen Fahrscheinautomaten vorbeizukommen. Alle Orte, wo Leute in Taschen wühlen und Portemonnaies verstauen, sind gute Orte. In jeder Bäckerei, in jeder Eisdiele schaue ich zuerst auf den Boden vorm Tresen und dann in die Auslage.
Überhaupt schaue ich unterwegs oft auf den Boden. Das wirkt nicht souverän, niemand, der etwas sucht, wirkt souverän. Aber ich kann nicht anders. Ich höre auch mitten im Satz auf zu sprechen, kehre auf Rolltreppen um, bleibe an Orten stehen, die nicht zum Stehenbleiben gedacht sind, springe auf Fahrradwege und pule in Straßenbahnschienen, wenn ich glaube, ein Cent-Stück gesehen zu haben – nicht ungefährlich, aber das ist es mir wert.
Ich habe früh angefangen. Ich tue das, seit ich las, dass Dagobert Duck so viel wie möglich zu Fuß geht, um unterwegs vielleicht eine Münze zu finden (und um Benzin zu sparen). Aber er ist wohl weniger wählerisch.
Manchmal finde ich drei Münzen an einem Tag, dann wochenlang nichts. Oft täusche ich mich auch. Es gibt unfassbar viele Ölflecken, die einen ähnlichen Durchmesser haben, die Seitenplättchen von Silvesterböllern, oder eben: 2-Cent-Stücke. Anfangs habe ich auch die aufgehoben, die Folgen waren: ein verlorener Briefkastenschlüssel, eine unerwiderte Liebe und ein kleiner Blechschaden. Aus diesen Erfahrungen habe ich mein Glück-Unglück-Regelsystem abgeleitet.
Finde ich eine Münze, trage ich sie ein paar Tage in der Hosentasche und stecke sie dann in eine leere Flasche unter meinem Schreibtisch. Was ich mache, wenn sie voll ist, weiß ich nicht, vielleicht im Garten vergraben, für schlechte Zeiten.
Und was soll ich sagen: Es klappt. Nicht nur, weil sehr oft etwas Schönes passiert ist, nachdem ich eine Münze gefunden habe, und sich alle Alltagsschikanen mit einem verloren gegangenen Cent-Stück erklären ließen. Sondern auch: weil ich davon gute Laune kriege. Weil es mich auf eine simple Art glücklich macht.
Bis heute sind in Deutschland zehn Milliarden 1-Cent-Stücke geprägt worden, mehr als doppelt so viele wie 1- und 2-Euro-Münzen. In Europa sind insgesamt 26,6 Milliarden 1-Cent-Stücke im Umlauf. Ich werde nicht aufhören, bis ich sie alle habe.
Foto: David Brandon Geeting