Wie kann ich so was das nächste Mal verhindern? Dass ich an der Kasse der Tankstelle anstehe, auf meinem Handy ploppt die Nachricht auf: »Gerd Müller gestorben«, ich kippe schier aus den Latschen, denn er war einer der ganz großen Helden meiner Kindheit, und statt mich hinplumpsen zu lassen und den Schreck erst einmal zu verdauen, muss ich sagen: »Nummer vier. Ich zahle mit Karte«. Was mir klar ist: Dass ich keinen Einfluss darauf habe, wo ich mich zum Zeitpunkt der Todesnachricht aufhalte, und das Handy für sechs Monate auszustellen ist auch keine Lösung. Aber es nagt an mir, denn dreißig Liter Benzin sind eines Gerd Müllers nicht würdig. Auch tausend nicht. Gar nichts.
Es ging mir ja nicht zum ersten Mal so: Vor ein paar Jahren, ich suche an meinem Schlüsselbund den Briefkastenschlüssel, den ich immer mit dem für das Fahrradschloss verwechsle, Handynachricht ploppt auf: »Karl Lagerfeld tot«. Fühlt sich an wie ein Hieb in den Magen, dabei wusste ich gar nicht, dass er einer meiner Helden war. Jetzt schon. Im Briefkasten die Mitteilung meines Optikers, dass meine Brillengläser zur Abholung bereitliegen. Sorry, Karl, so viel Banalität hast du im Tod nicht verdient. Nur, was soll ich künftig machen? Die Wohnung nicht mehr verlassen, auf dem Sofa Platz nehmen, um halbwegs gefasst zu sein, wenn einer stirbt, den ich bewundere, oder von dem sich bei der Nachricht seines Todes rausstellt, dass ich ihn wohl bewundert habe? Die Handynachrichten unterdrücken, bis ich auf dem Sofa sitze? Aber wie dann verhindern, dass ich gerade eine Streifenkarte für den Bus löse, wenn mich jemand anruft, um mir seinerseits die Betroffenheit über den Tod eines Prominenten mitzuteilen?
Einmal, immerhin, ist mir zufällig so etwas wie Würde, die ich meine, gelungen: Als ich – natürlich über mein Handy – erfuhr, dass Prince gestorben ist. Da saß ich bei Dunkelheit am Fluss in Bangkok, allein. Die beleuchteten Boote fuhren an mir vorüber und ließen das Wasser glitzern. Ich bestellte einen Gin Tonic, blieb einfach sitzen, dachte an Purple Rain und sein Konzert im Münchner Olympiastadion, bei dem ich war. Als ich irgendwann ins Bett ging in Bangkok, war ich immer noch traurig, aber auch elegischer, »nothing compares to you« halt.
Ich weiß, dass auch Kurt Biedenkopf, Alfred Biolek, Diego Maradona oder Hans-Jochen Vogel kürzlich gestorben sind. Das hat viele zu Recht erschüttert, mich nicht – oder kaum –, denn mit keinem von ihnen habe ich eine Geschichte, jedenfalls keine, die mir nahegeht. Mit Logik hat das wenig zu tun, weiß ich doch, dass Diego Maradona auf dem Fußballplatz genial wie Gerd Müller war, und Hans-Jochen Vogel der Held meines wunderbaren Großvaters, »weil er die Olympiade nach München gebracht hat«. Bloß, mit Karl Lagerfeld hatte ich überhaupt keine Geschichte, bin ihm nie begegnet, und dennoch hat sein Tod mich fast umgehauen. Was mich umtreibt: Wer von den Menschen, die ich bewundere oder mal bewundert habe, könnte demnächst sterben, sodass ich die Chance hätte, mich rechtzeitig zu wappnen? Ist Quatsch? Weiß ich.
In den Achtzigerjahren wollte ich sein wie Annie Lennox. Dann verschwand sie aus den Hitparaden – und aus meinem Leben
Ich bin definitiv nicht abergläubisch, Menschen, denen man nicht am Vorabend ihres Geburtstags gratulieren darf, weil das Unglück bringe, belächle ich. Trotzdem steckt tief in mir die Überzeugung, man dürfe den Tod lebender Personen nicht herbeireden, deren baldiges Ableben man befürchtet. Hoffentlich lesen sie das jetzt nicht, aber der Tod von Mick Jagger, Joni Mitchell, Franz Beckenbauer, Roberta Flack oder Sophia Loren wird mich heftig erschüttern. Gibt es ein Gegengift, häufig an sie denken, ihre Lieder immer wieder hören, ihre besten Filme und Fußballspiele immer und immer wieder ansehen? Täte das im entscheidenden Moment nicht erst recht weh? Und das sind nur die Alten. Was, wenn ein Junger stirbt, mit dessen frühem Tod keiner gerechnet hat, wie der Schauspieler Heath Ledger, der mit 28 Jahren eine Überdosis Tabletten schluckte und in einem Hotelzimmer gefunden wurde? Oder wenn Beyoncé mit ihren jetzt fast vierzig Jahren sterben sollte? Pfui, so was denkt man nicht mal, oder?
Mal angenommen, jemand von meiner Familie oder meinen Freunden würde demnächst von einem herunterfallenden Dachziegel erschlagen oder mit dem Flugzeug abstürzen? Ja, das ist eine andere Dimension, verdeutlicht aber aufs Grausamste, wie sinn- und aussichtslos der Versuch ist, im Vorhinein schon mal zu trauern.
Es gibt kluge Leute, die Bücher über das Trauern geschrieben haben, das Vorabtrauern findet darin kaum Platz, was richtig ist, denn es ergibt so viel Sinn wie jemandem, der in einem Monat die Wüste durchqueren will, zu raten, heute schon mal viel Wasser zu trinken. Kathrin Boerner, gebürtige Deutsche, ist Professorin für Gerontologie an der Universität von Boston und forscht zum Thema Verlust von Menschen. In ihrer Mail schreibt sie: »Stirbt ein Prominenter, betrauern wir nicht das Ende einer Beziehung, sondern das Ende einer Ära, das, wofür die Person in unserer Vorstellung stand«. Für mich also Gerd Müller. In meiner Vorstellung war er klug und nicht, wie wohl in Wahrheit, von milder Intelligenz. Ich gebe es ungern zu, aber ich sehe mich noch, wie ich mit sieben oder acht in unserem blauen Wohnzimmersessel sitze und mir vorstelle, wie schön es sein müsste, würde er mich adoptieren. Wie ich dann in meinem gelb gestrichenen Zimmer säße bei ihm zu Hause und für mich bei jedem seiner Spiele ein Ehrenplatz reserviert wäre. Die Tatsache: Bei den Fußballspielen des FC Bayern, zu denen mich mein Bruder mitnahm, hatten wir Stehplätze. Natürlich habe ich Gerd Müller nur aus der Ferne gesehen, ihn nie getroffen.
Annie Lennox auch nicht. Doch ich könnte, theoretisch wenigstens, sie lebt noch. In den Achtzigerjahren, als sie mit den Eurythmics ganz oben war, wollte ich sein wie sie: klug, schön, emanzipiert. Dann verschwand sie aus den Hitparaden – und aus meinem Leben. Was sie heute macht? Keine Ahnung. Für Kathrin Boerner, die Gerontologin, keine Überraschung. Sie schreibt: »Ändern sich unsere Interessen, tauschen wir oft die Vorbilder, beschäftigen uns nicht mehr mit ihnen.« Doch genau so lautet ihre Empfehlung, die Wucht der Trauer über deren Tod zu entschärfen: Statt die Erinnerung an sie einzufrieren, wäre es besser, weiter ihr Leben zu verfolgen, zu beobachten, dass sie – wie wir – älter werden, vielleicht auch krank. »So wären wir viel besser auf ihren Tod vorbereitet.«
Ich google jetzt mal, was Annie Lennox macht. Und schalte das Handy dabei aus.