Der dicke Mann ist leicht beglatzt. Er trägt einen blauen Monteuranzug, über der rechten Augenbraue hat er eine Schürfwunde, die mäßig blutet. In der Mitte der Straßenkurve stehend, sieht er aus, als ob er gleich zusammensacken würde. Neben ihm liegt, nach links hin umgekippt, doch ohne erkennbar zu Schaden gekommen zu sein, ein dreirädriges braunes Lieferauto. Daneben neun prall gefüllte Kartoffelsäcke, unversehrt. Der dicke Mann betrachtet das harmlose Malheur fassungslos. Vom Gewicht trüber Gedanken niedergedrückt, schaut er drein wie ein Sammler angesichts eines Kunstwerks, das eben verschandelt wurde.
Ich habe die simple Eindringlichkeit der Szene nicht vergessen. Ich war damals 13 Jahre alt, Quartaner am Domgymnasium in Naumburg an der Saale. Ich weiß inzwischen, welch ein unzuverlässiger Speicher das Gedächtnis ist. Vergilbt oder gar gelöscht sind in meiner Erinnerung viele Seiten miterlebter Zeitgeschichte. Staatskrisen und geplatzte Konferenzen, Befreiungskriege und Revolutionen, nationale Katastrophen und internationale Spannungszentren – all die großen Spektakel der Weltpolitik, über die ich als Chefreporter der Süddeutschen Zeitung fünfzig Jahre lang berichtet habe, sind vor meinem geistigen Auge weniger plastisch lebendig als jenes Bild vom dicken Mann vor seinem umgekippten Dreiradtransporter hinter dem Salztor in Naumburg. Der Vorfall hatte den Stoff für meinen ersten Report abgegeben. Es war ein sonnendurchglühter Sommer gewesen, das Städtchen schmorte in Hitze. Während meine Freunde sich in der Saale flussabwärts treiben ließen, verbrachte ich meine freie Zeit mit einem die Geduld zermürbenden Unternehmen. Nachmittag für Nachmittag stand ich mit dem Fahrrad nahe dem Salztor postiert und wartete auf ein Ereignis, das ich herbeisehnte mit der unbeirrten Ausdauer eines Anglers, der in einem fischarmen Gewässer einen kapitalen Fang machen will. Ich wartete viele Wochen lang darauf, dass eines der neu in den Verkehr gekommenen dreirädrigen Lieferautos infolge noch unzulänglich konstruierter Kurvenstabilität umkippen würde.
Den Tipp hatte mir ein Unterprimaner gegeben. Er hieß Werner, er war gerade mein großes Vorbild. Werner wollte als Reporter die Welt bereisen und hatte es immerhin schon geschafft, dass im Naumburger Tageblatt bisweilen Artikel von ihm erschienen, gezeichnet mit seinem vollen Namen. Ein zusätzlicher Reiz seines Erfolges lag darin, dass dem Studienrat, der in der Unterprima sowie bei uns in der Quarta Deutschunterricht gab, aufgrund einer persönlichen Fehde mit dem Redakteur des Tageblattes verwehrt war, selbst als gelegentlicher Autor im Lokalblatt glänzen zu dürfen. Allein der Gedanke daran, dass es mir gelingen könnte, unseren Deutsch-Pauker auszustechen, erregte in mir das lebhafteste Hochgefühl, das sich ein 13-Jähriger verschaffen kann.
In jener Zeit sind die der Presse zugänglich gemachten Polizeiberichte andersgeartet gewesen als heutzutage. Sie waren nicht bestimmt von der Bereitschaft, die Öffentlichkeit ungeschminkt über alles in Kenntnis zu setzen, was passierte. Werners Ratschlag, ich solle mich, so ich etwas in der Zeitung unterbringen wolle, als Polizeihilfsreporter versuchen, entsprang also einem durchaus elementaren journalistischen Bedürfnis.
Von Werner wusste ich nicht nur, dass die Balance der neuen Dreiradtransporter besonders in der spitzen Kurve hinter dem Salztor gefährdet ist. Er hatte mir auch eingeprägt, was ich im Fall des Falles genau registrieren müsse: wann, was, wer, wie und wo. Dann sollte ich so schnell wie möglich zum Tageblatt radeln und dort dem Redakteur meinen Bericht abliefern. Verkehrsunfälle waren selten, sie hatten somit einen beträchtlichen Nachrichtenwert, die Leser waren neugierig darauf.
Ich weiß noch genau, wie der Sturm momentaner Erregung schnell ruhiger Fassung wich, als ich schließlich nach wochenlangem Harren den braunen Dreiradtransporter plötzlich in der Kurve schwanken sah und dann erlebte, wie sich das Wägelchen nach einer jener Pausen, die so kurz sind, dass man sie kaum merkt, auf die linke Seite legte. Ich raste zum Tageblatt, ich hatte meine Partitur gut im Kopf.
Der Lokalredakteur nahm meine atemlose Kunde nicht spöttisch amüsiert entgegen, sondern voll kollegialem Interesse. So wenigstens erschien es mir, als er mir die Hand schüttelte mit der aufmunternden Kraft eines Kameraden, auf den man sich im Ernstfall verlassen kann. Am nächsten Morgen stand mein Bericht in der Zeitung, elf Druckzeilen, am Schluss war der Anfangsbuchstabe meines Namens gesetzt. Der Kassier zahlte mir fünf Markstücke aus, eine Menge Geld für einen Buben damals. Mein Vater freute sich mit mir, ohne dabei gleich den Verbindungsfaden zu einer tieferen Deutung zu finden – ein freiheitlich gesinnter Mann hätte 1935 bloß erschrecken können bei der Vorstellung, dass sein Junge von nun an Journalist werden wollte.
Gut sieben Jahrzehnte später – neulich im August – war mein 85. Geburtstag. Im Konferenzraum der Süddeutschen Zeitung haben sie mich herzlich gefeiert, und ich habe im Rückblick auf ein glückliches Reporterleben gedankt. »Es lohnt sich, 85 zu werden«, habe ich gesagt.
Hier weitere Fragen über das Alter:
Frage 1:
Fühlt man sich im Ruhestand nutzlos?
Frage 2:
Wie wichtig ist im Alter das Aussehen?
Frage 3:
Entwickelt man sich mit den Jahren zum Reaktionär?
Frage 4:
Macht das Alter maßlos?
Frage 6:
Was kann man tun, um im Alter nicht müde zu werden?
Frage 7:
Was tun, wenn man nicht ins Altersheim will?
Frage 8:
Wie geht man mit Krankheit um?
Frage 9:
Was verändert sich im Alter überhaupt nicht?
Frage 10:
Macht es melancholisch, plötzlich Opa zu sein?