SZ-Magazin: Frau Steele, es heißt, wenn die Röcke länger werden, fällt die Konjunktur, während kurze Röcke einen wirtschaftlichen Aufschwung bedeuten. Hat sich die Finanzkrise etwa auf dem Laufsteg angekündigt?
Valerie Steele: Diese These ist nichts als ein Mythos. Sie hält sich ebenso hartnäckig wie das Märchen, dass sich Frauen in viktorianischer Zeit die unteren Rippen herausnehmen ließen, um eine Wespentaille zu bekommen. Dabei sieht man in den aktuellen Winterkollektionen doch, dass es gar keine einheitliche Rock-länge gibt: Bei Prada gehen die Röcke bis knapp unters Knie, bei Dolce&Gabbana sind sie knöchellang, und Marc Jacobs entwarf für Louis Vuitton gleich verschiedene Längen. Auf der Straße tragen die Frauen Jeans. Woher weiß ich denn, welchen Rock ich in Betracht ziehen soll?
Der US-Wirtschaftswissenschaftler George Taylor erfand 1920 den »Rocksaum-Index«, der besagt, dass Konjunktur und Rocklänge sich analog verhalten. Seiner Ansicht nach trugen Frauen in Boom-Zeiten kürzere Röcke, um ihre teuren Seidenstrümpfe zur Schau zu stellen, und in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs versteckten sie die nackten Beine unter langen Röcken… Das ist doch Unsinn. Natürlich galt es in den Zwanzigerjahren als revolutionär und aufregend, plötzlich Bein zu zeigen, schließlich ging es um sexuelle Reize – doch nicht um die Strümpfe! Wie kommt es, dass der »Rocksaum-Index« in jeder Krise aufs Neue bemüht wird? Die Menschen mögen das Unvorhersehbare nicht, sie wollen nicht glauben, dass etwas ohne Bedeutung geschieht. Deshalb sind sie dankbar, wenn sich ein einfacher Zusammenhang herstellen lässt. Wie viele Modetheorien erscheint auch der »Rocksaum-Index« durchaus einleuchtend.
Was stimmt nicht daran? Er hält einer genauen Betrachtung nicht stand. Zum Beispiel waren die Röcke nur Mitte der Zwanzigerjahre wirklich kurz, schon 1927 begann ihr Saum wieder zu fallen – zwei Jahre vor Beginn der Weltwirtschaftskrise. In den späten Sechzigern, als der »Rocksaum-Index« erneut populär wurde, brachte man die boomende Wirtschaft mit dem Minirock in Verbindung. Leider passt die Rezession nicht zum Timing, denn sie entfaltete sich erst in den Siebzigern, während die Mädchen bereits 1967 auf der Straße in langen Hippiekleidern herumliefen. Ein Foto der Herbst-Winter-Kollektionen von 1969 zeigt Miniröcke von Ungaro und Courrèges neben mittellangen Modellen von Pierre Cardin und Christian Dior und einem bodenlangen Rock von Yves Saint Laurent. Dann wäre da noch der »Schwarze Montag«, der 1987 die Börse erschütterte: Damals trug man die Röcke ziemlich kurz.
Die Rocklänge kann uns bei Konjunkturprognosen wirklich nicht weiterhelfen? Die beiden stehen jedenfalls nicht in direktem Zusammenhang. Betrachten wir Michelle Obama: Sie ist eine charismatische, moderne Frau, und was ihren Stil angeht, könnte sie zur bedeutendsten First Lady seit Jackie Kennedy werden. In der Wahlnacht trug sie ein schwarz-rotes Kleid des US-Designers Narciso Rodriguez, dessen Saum kurz über dem Knie endete. Lässt sich deshalb aus ihrem Look folgern, dass es mit der Konjunktur jetzt aufwärts geht? Nein – aber ich glaube daran, dass sich aufgrund der gestiegenen Zuversicht die Konjunktur erholt, weil wir endlich wissen, wer Präsident wird. Anders ausgedrückt: Es geht doch nicht um den Rock – es geht um Obama.
Valerie Steele ist Modehistorikerin und Direktorin des Fashion Institute of Technology in New York.
Illustrationen: Paul Ballhaus