Momentaufnahmen zu den wichtigsten Begriffen der Saison. Hier: Wille
1. Schuld ist der Jambus
Ta di ta da ta Schmutzpostille
Ta da ta di ta freier Wille.
Ta di ta di ta wirklich frei?
Ta da ta da ta einerlei!
Ta dim ta da ta Idiotie
Ta dam ta Neurophysiologie.
Ta dim ta da determiniert?
Ta dam ta di nur Stuss gebiert!
2. Anleitung zur Interpretation
Die Autorin ist der Auffassung, dass die Schlüsse aus gewissen neurophysiologischen Experimenten, die zu einer Infragestellung, ja, zur Leugnung des freien Willens des Menschen führen, auf einem zwar profanen, aber offensichtlich tief verwurzelten Missverständnis beruhen – auf einem Subjekt-Objekt-Trugschluss, einem fehlerhaften Umgang mit der Frage, was denn der Mensch sei.
Die Autorin schlägt sich an Kneipentischen bei Bier und Wein mit den nervtötenden Proklamationen von Hobby-Deterministen herum, die sie für ihre Freunde und Bekannten hielt, bevor diese durch das Lesen pseudowissenschaftlicher Artikel in den einschlägigen Kaffee-und-Kuchen-Postillen auf die Idee gebracht wurden, an den mittelmäßigen Miseren ihres Lebens nicht mehr selbst schuld zu sein, da jedes prekäre Arbeitsverhältnis, jedes Single-Dasein und einförmige Dahintröpfeln ergebnisloser Tage vorherbestimmt werde, und zwar nicht von Gott, nicht von der amtierenden Regierung, nicht mal von der Furcht erregenden Kausalitätsmaschine, die wir Universum nennen – sondern von, ja, ihren eigenen Gehirnen.
Die Autorin setzt das betreffende Grundlagenexperiment zur Entscheidungsbildung als bekannt voraus, bei dem man die Probanden bat, in einem beliebigen Moment ihr linkes Handgelenk zu bewegen, während mittels einer futuristischen Ansammlung von Drähten und Dioden gemessen wurde, dass die Hirnaktivität zum Bewegen des linken Handgelenks etwa eine halbe Sekunde vor dem Moment einsetzte, in dem die Probanden eine freie Entscheidung zu treffen glaubten.
Die Autorin nimmt also am Kneipentisch (sarkastisch) zur Kenntnis, dass ihr (jedes) jedes (Wort) Wort, (welches) welches (sie) sie (ausspricht) ausspricht, bereits eine halbe Sekunde vor der Entscheidung zu sprechen von einem kleinen Mann im Ohr diktiert wird, der mit der Autorin (aber was ist die Autorin?) bzw. mit dem Bewusstsein der Autorin (aber was ist das Bewusstsein der Autorin?) nicht identisch ist, sondern als eine Art Herrscher aus den dunklen Gefilden des Un- oder Vorbewussten die Fäden der Autorinnenmarionette bedient.
Die Autorin gibt weiter (noch sarkastischer) zu, dass sie nicht mit den Fußsohlen denkt und den Sitz ihres »Ich« (und des freien Willens) deshalb auch nicht in den Fußsohlen lokalisieren würde, zumal die Autorin, schnitte man ihr die Füße ab, wahrscheinlich überleben könnte, was ebenso für ihre Hände, Knie, Schultern, Hüften, ja selbst für die linke Niere gilt, die man ebenfalls, wie fast alles an der Autorin, von der Autorin entfernen könnte, ohne ihr ernsthaft zu schaden – denn schließlich ist nur der Kopf Sitz des Denkens (und damit des freien Willens), und in diesem Kopf eigentlich nur das Gehirn, und in diesem Gehirn eigentlich nur das Großhirn, und in jenem Großhirn eigentlich nur die Teile, die für das bewusste Denken verantwortlich zeichnen und die somit (eine kleine Handvoll rosa Schleim) als das »Ich« der Autorin betrachtet werden müssen, während alles andere vielleicht nicht direkt stört, vielleicht auch nicht völlig überflüssig ist, jedenfalls aber nicht wirklich zur Autorin beiträgt, weshalb es auch nicht teilnimmt an einer eventuellen Freiheit des Willens, sondern dieser, im Gegenteil, antagonistisch gegenübersteht.
Die Autorin (also die kleine Handvoll rosa Schleim) konstatiert (wieder ernst), dass dies die absurdeste Zuspitzung der von Anfang an idiotischen Aufteilung des Menschen in Körper (oder: Natur) und Geist (oder: Seele) sei, die man sich überhaupt denken könne, und dass sich angesichts dieser Absurdität doch bitte jedes vernünftig denkende Wesen dazu bekennen müsse, dass es der Welt (sprich: einer unbekannten Zukunft) als Ganzes gegenübertrete und deshalb seine Entscheidungen, ganz gleich im Verlauf welcher gestuften Prozesse und durch welche beteiligten Instanzen sie gebildet werden, auch als Ganzes zu vertreten habe.
Die Autorin (der schon niemand mehr zuhört) bemerkt am Ende, dass sie sich auf die ersten strafrechtlichen Prozesse freue, in denen der Täter sich mit dem Ausruf verteidigt: »Ich war’s nicht, das war mein Gehirn!« – und beobachtet daraufhin, wie die Hobby-Deterministen gähnend ihre Biere bezahlen und sich (»ist nicht unser freier Wille, aber wir müssen früh raus«) auf den Heimweg machen.
Die Autorin schreibt deshalb (als Akt des Widerstandes) schlechte Gedichte und erklärt sich öffentlich bereit, die volle Verantwortung dafür zu übernehmen, und zwar als Ganzes, von den Haarspitzen bis in die Fußsohlen. Wenn das kein Beweis für die Existenz eines freien Willens sei, soll die Autorin einmal geäußert haben, dann wisse sie auch nicht mehr.
Juli Zeh ist Schriftstellerin.