Alt erwischt

Auf einmal ist da dieses Bild: ein Beastie Boy, ganz bürgerlich, ganz brav. Müssen wir uns Sorgen machen?

(Foto: Trevor Tondro/NYT/Redux/laif)

Traurig? Traurig ist an diesem Foto eigentlich nichts. Ein Mann und eine Frau, beide Ende 40, sitzen auf dem Sofa. Auf dem Tisch ein paar Fotobände, dezente Blumen. Draußen vor dem Fenster eine Ahnung von einem New Yorker Seitenstraßenidyll. Der Mann schaut ernst, konzentriert, als hätte er gerade eine Runde Yoga hinter sich, die Frau lacht und berührt mit einem nackten Fuß den kuschligen Fransenteppich, vermutlich riecht es im Raum nach Frischgebackenem.

Das Foto wäre nicht weiter bemerkenswert. Ein Lehrer-Ehepaar eben. Oder Architekten. Saturierte Menschen mit Interesse am Kreativen und einer Vorliebe für Bio-Essen. Das Foto ist nur irritierend, wenn man den Mann erkennt: Er heißt Michael Diamond, als Musiker nannte er sich viele Jahre lang Mike D und war einer der drei Beastie Boys. Sobald man sich das bewusst macht, wirkt das Foto wie falsch belichtet. Stand dieser Kerl nicht mal für Provokation? Lief der nicht mit aufblasbaren Riesenpenissen über die Bühne? Schrie rum, spritzte mit Bier, führte sich auf wie eine Stinkbombe mit Beinen?

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Ja. Aber das ist mehr als 25 Jahre her. Mike D ist heute 48. Älter, gelassener. Es wäre unsinnig zu erwarten, dass der Mann in einem WG-Zimmer wohnt, in dem die Wände vollgesprüht sind und alte Socken neben leeren Bierdosen auf dem Tisch liegen. Nein, das, was einen beim Betrachten des Bildes irritiert, ist nicht die scheinbare Biederkeit des Mannes, sondern das Verstreichen der Zeit. Um es mit einem alten Zeichentricksong zu sagen: Wer hat an der Uhr gedreht?

Mit der Tatsache, dass Zeit vergeht, tut sich die Welt des Pop immer schon schwer. Als Pop in den Fünfzigerjahren erfunden wurde, war da vor allem das Versprechen ewiger Jugend, die Texte handelten von sweet little sixteens und high school dances, und erst mal begeisterten sich nur Jugendliche dafür. Aber auch als Pop erwachsen wurde, in den Sechziger- und Siebzigerjahren, galt Jugendlichkeit immer noch als wesentliches Merkmal – bis Punk den älter gewordenen Hippies das Recht auf Jugend absprach. Dann kamen die Achtzigerjahre und immer so weiter: alle paar Minuten eine neue Generation oder auch nur Halbgeneration, die den älteren Geschwistern die Tür zeigte.

Der Witz ist nur: Die Alten verschwinden ja nicht. Sie machen weiter. Manche in Würde. Viele voll Verzweiflung. Jahr für Jahr tauchen neue Fotos von Madonna auf, auf denen sie noch sehniger aussieht, noch härter zu sich selbst im Kampf gegen das biologische Alter. Ihr Name ist fast schon zum stehenden Begriff geworden – in der smarten TV-Serie 30 Rock sagt eine Kollegin zur anderen: »Du bist wie Madonna, du klammerst dich an die Jugend mit deinen Gollum-Armen.«

Andere tragen ihr Alter mit Fassung oder stellen es sogar mit Stolz aus. Das führt dann zu so herrlich grotesken Kombinationen wie bei den Rolling Stones: Der 71 Jahre alte Mick Jagger mit seinen streng gefärbten Haaren tut so, als sei er ewig 20 – und direkt neben ihm steht der weißhaarige Keith Richards, nur ein halbes Jahr jünger, und amüsiert sich, dass er wie Methusalems älterer Bruder aussieht.

Aber trotz aller Falten und Jubiläen – Pop existiert erst seit ein paar Jahrzehnten, die Kunstform ist jung. Im Gegensatz zu Literatur oder bildender Kunst lebt die Generation der Erfinder noch. Das führt dazu, dass Kritiker oft nörgeln, es gäbe auf einmal einen »Alterskult« (FAZ), nur weil Fans immer noch Bob-Dylan-Konzerte besuchen. Oder es wird darüber nachgedacht, dass die erste Generation langsam vergreist, und sogar ein Politikmagazin wie Cicero versucht sich an der Titelgeschichte »Der letzte Sommer des Rock ’n’ Roll – wie es mit dem Sound einer Generation weitergeht, wenn seine Väter weg sind« (wenig überraschendes Fazit der Story: »Ihre Nachfolger bewahren, interpretieren, variieren, ergänzen das Erbe.« Wer hätte das gedacht?).

Dabei ist das Spannende im Pop der Gegenwart weder das Alter seiner Protagonisten noch deren Tod. Das Besondere ist die ständige Gleichzeitigkeit. Die Alten veröffentlichen Jahr für Jahr Platten. Die Jungen behaupten Saison für Saison, sie seien jetzt die Wachablösung – so lang, bis sie selber zu den Alten zählen. Alle gemeinsam machen sie weiter. Was da stattfindet, sind gar keine Generationenwechsel, sondern nur Generationenanhäufungen.

Verstärkt wird dieser Effekt durch die Zeitmaschine Internet. Auf Youtube gibt es sie alle auf einmal: den 20-jährigen Jagger, die 30-jährige Madonna, den 71-jährigen Mick, die 50-jährige Frau Ciccone. Die 18-jährigen Beastie Boys, die 40-jährigen Beastie Boys. Und das ist vielleicht das Tragische an den alternden Popstars von heute, ob sie nun Madonna oder Mike D heißen: Es ist leichter als je zuvor, ihr gegenwärtiges Bild mit den Bildern aus ihren besten Zeiten zu vergleichen. Früher blieben einem da nur ein paar abgegriffene Plattencover oder vergilbte Zeitschriftenseiten – heute findet sich jederzeit jedes Video einer Band auf Youtube, mit einem Klick verwandelt sich der müde alte Kämpfer in den jungen Wilden und wieder zurück. Dass dank digitaler Hologrammtechnik sogar verstorbene Stars wie Tupac Shakur plötzlich wieder »live« auftreten, ist nur die logische Weiterentwicklung des Immer-und-überall-Gedankens.

Die Alten bleiben ewig jung. Die Jungen werden ständig älter. Die Toten leben weiter. Und mittendrin tun manche einfach so, als existiere für sie die Zeit gar nicht. Als gerade das neue Album von U2 unbestellt auf den Computern aller iTunes-Kunden landete, sorgte das für einen weltweiten Shitstorm. Bono (54) reagierte mit der dreisten Behauptung, das sei Punk: »Leute zu ärgern und sie zu provozieren.« Da reklamiert der Sänger der erfolgreichsten und etabliertesten Stadionrockband der Welt für sich die Art von Frechheit, mit der eigentlich die Jugend gegen das Establishment rebelliert. Gewagt.

Und Mike D, der Bierspritzer, der Schreihals, der Goldkettenträger von einst, sitzt in seinem bürgerlichen Wohnzimmer in Brooklyn und wirkt so weit weg vom Prinzip Popstar, wie es nur geht. Ein Mann mittleren Alters in geordneten Verhältnissen. Man hatte ihn anders vor Augen, ja. Aber wer ehrlich ist, wird zugeben müssen: Das, was einen an diesem Foto melancholisch stimmt, ist im Grunde nicht die vermeintliche Spießigkeit von Mike D, nicht das Saturiertenidyll – nein, das Irritierende ist das eigene Älterwerden.

Das Foto funktioniert wie ein Spiegel. Wer mit den Beastie Boys aufgewachsen ist, kriegt vorgeführt: Du bist keine 17 mehr. Jede Jugend ist irgendwann vorbei. Tja, und genau davon wollte Pop uns doch eigentlich immer ablenken, oder?