Nein, sagt Max Raabe, ein Botschafter deutscher Kultur sei er nun wirklich nicht. Dieses Bild ist ihm zu pathetisch, zu hoch gegriffen. Das mit den Konzerten im Ausland habe sich nur ergeben, weil man ein wenig auf der Suche nach Abwechslung war. Im Frühjahr, wenn das Berliner Grau nach einem ewigen Winter unerträglich wird, reist man eben nach Italien, in Rom stehen dann schon die Tische draußen auf den Straßen. Und wenn man nach einer kleinen Tour im Ausland heimkehrt, macht es auch wieder so richtig Spaß, vor deutschem Publikum zu spielen. Dann kann man sich wieder daran freuen, dass die Leute jeden Scherz, jede Anspielung, jeden Zwischenton verstehen. Max Raabe, der Kulturbotschafter. Auch wenn er das nicht gern hört: Es gab und gibt nicht allzu viele Künstler der Populärkultur, die im Ausland ihr Publikum gefunden haben. Aus dem Stegreif fallen einem ein: Rammstein. Nena. Die Scorpions. Ute Lemper. Die Toten Hosen. Die Einstürzenden Neubauten. Kraftwerk. Der ein oder andere Techno-DJ. Und dann Max Raabe und das Palast Orchester mit ihren abgestaubten Schlagern aus dem Berlin der Zwanzigerjahre. Eine seltsame Reihung. Raabe hat im vergangenen Jahr in der Carnegie Hall in New York gespielt. Das ist der Olymp für Künstler, mehr geht eigentlich nicht. Es war doch nur der mittlere der drei Carnegie-Säle, die Zankel Hall mit 600 Plätzen, relativiert Raabe bescheiden. Immerhin, fürs nächste Jahr ist man wieder eingeladen. Dann aber für den ganz großen. Das Palast Orchester ist auch schon in Moskau aufgetreten. Der Rolling Stone, Zentralorgan des Rock ’n’ Roll, eröffnete seine russische Vertretung und wählte zur musikalischen Untermalung der Party: ausgerechnet Raabe. Die Platte, auf der er zeitgenössische Popsongs in den Stil der Zwanzigerjahre zurückführte, sprang in Lettland auf Platz eins der Albumcharts. Im vergangenen Jahr sang Raabe auf dem irischen Schloss Gurteen, wo Marilyn Manson die Tänzerin Dita von Teese heiratete. Der Rockmusiker, immer kostümiert wie aus einem Horrorfilm, ist ein Fan des durchweg adrett gekleideten Max Raabe. Und jetzt also eine Tour durch Japan. Und eine durch die Volksrepublik China gleich hinterher. Mit 290 Stundenkilometern gleitet der Shinkansen von Tokio in Richtung Osaka. Draußen fliegen Reisfelder vorbei, Wohnsiedlungen, Einkaufszentren. Driving-Ranges für Golfer, die aussehen wie riesige Volieren. »Lustig, finden Sie nicht auch?« Raabe kann sich für dieses Land begeistern, für seine feine Ästhetik, den leisen Humor. Er streift seinen Schuh ab und zeigt die Socken, die ihm tags zuvor ein Japaner geschenkt hat, Socken wie Handschuhe, die jeden Zeh einzeln umschließen. »Hat ja auch jeder Zeh seine eigene Seele.« Er freut sich über die rot-golden lackierte Pappschachtel, aus der die Japanerin neben ihm ihre Mahlzeit stäbelt. Asien war natürlich eine Herausforderung. Viel weiter kann man sich nicht entfernen, viel fremder kann eine Kultur nicht werden. Und so war natürlich die Aufregung groß unter den elf Musikern und der einen Musikerin des Orchesters. Vor dem Konzert lag die Sorge in der Luft, ob das Publikum die Musik verstehen und ob es überhaupt applaudieren werde, schließlich beschreibt das Klischee, das von den Japanern zirkuliert, sie doch als sehr zurückhaltend. Und dann das: lang anhaltender Beifall. Glückliche Gesichter. Eine ältere Japanerin, die in eine Fernsehkamera den denkwürdigen Satz spricht: »Im ganzen Körper hab ich die Musik gespürt. Ab morgen beginne ich ein neues Leben.« Ein buddhistischer Mönch, der sich angesichts von Singing in the Rain in seine Jugend versetzt fühlt. Der Anchorman einer Spätnachrichtensendung, der in Raabes reduziertem Auftreten Parallelen zum klassischen Kabuki- und No-Theater entdeckt: »Ich denke, dass vielleicht niemand Raabes Kunst so gut versteht wie wir in Japan.« Der Musikchef des nationalen Fernsehens, der nach dem Konzert beseelt lächelt und froh ist, für einen Konzertmitschnitt des Palast Orchesters eine Stunde zur besten Sendezeit frei geräumt zu haben.
Den Erfolg in der Fremde hat sich Raabe erarbeitet. Er, der Perfektionist, der größten Wert auf seine Ansagen legt (»Ich überlasse keine Formulierung dem Zufall«), hat sich seine »Conferencen« ins Japanische übersetzen lassen. Es gelingt ihm, sie so akzentuiert und akzentarm vorzutragen, dass das Publikum an den richtigen Stellen lacht. Außerdem hat das Orchester einen japanischen Schlager einstudiert, Shiroi Fune aus den Vierzigerjahren. Das Publikum reagiert erst ganz verwundert, dann berührt und ehrfürchtig, als das ihm vertraute Lied erklingt. Raabe weiß sich in die Herzen der Menschen zu singen. Tags drauf, im Schnellzug nach Osaka, ist Raabe ganz gelöst ob der Tatsache, dass das Projekt Japan so reibungslos begonnen hat. Er berichtet von dem Moderator eines japanischen Kulturjournals, den die Bühnenshow des Palast Orchesters an jene von Kraftwerk erinnerte. Trotz der Diskrepanz zwischen der kühlen Elektronik aus den Achtzigern und den frivolen Schlagern aus den Zwanzigern ist der Vergleich nicht zu weit hergeholt: Die Kunstmusiker aus Düsseldorf sind ebenso restaurativ, was das eigene Werk angeht, über die Jahre hinweg ähneln sich ihre Konzerte, nur ein technischer Perfektionierungsprozess ist zu bemerken. Jener Drang zur Perfektion zieht sich auch durchs Werk des Palast Orchesters. »Die reduzierte Form habe ich für mich als Stilmittel entdeckt und kultiviert«, sagt Raabe. Den Leuten habe es gefallen, dass er auf der Bühne so wenig agiere. Früher setzte er sich sogar während der Konzerte auf einen Stuhl, heute lehnt er leicht verbogen am Flügel. Wer erwartet, dass er die Arrangements zuknödelt, sieht sich angenehm überrascht. Raabe gibt dem Orchester Platz. Immer wieder zieht er sich zurück und pausiert. Raabe ist vor allem ein Meister des Nicht-Singens. Für die strenge, symmetrische Bühnenshow hat sich der ehemalige Ministrant Raabe von ganz oben inspirieren lassen: »Kaum ein Verein hat das Inszenieren so gut drauf wie die katholische Kirche. Bei denen habe ich viel gelernt.« Und dann die Liebe zum Detail: »Andere Kapellen staunen, wenn ich meine Koffer aufmache«, sagt der Tonmeister stolz. »Wir haben Mikros von Neumann, die beliefern die Stones und den Papst.« Bei der Entwicklung des Vokalmikros habe man sogar mitgeholfen, es verfüge über einen integrierten Poppschutz, damit es aussieht wie aus der Rundfunk-Steinzeit. Immer perfekter im Laufe der Jahre wurden auch die Kostüme der Musiker. »Anfangs kauften wir die Smokings bei C & A«, erinnert sich einer, »aber dann merkten wir, dass wir im Bühnenlicht unterschiedlich schimmerten.« Jetzt lässt das Orchester einheitlich beim Herrenausstatter Günter Adam in Charlottenburg schneidern. Anzüge im Stil der Zwanzigerjahre: Der Hosenbund sitzt weit über dem Bauchnabel, die Hemden werden silbern geknöpft, haben abnehmbare Manschetten und Kragen sowie vorn ein Lätzchen. Nur bei den Lackschuhen leben die einzelnen Musiker noch ihre Individualität aus. »Sollten wir es bis nach Las Vegas schaffen«, flachst einer, »kauf ich mir dort Westernstiefel aus Lack. Garantiert!«
Es ist lustig, mit der Combo zu touren, das Ganze erinnert an einen quietschfidelen Wanderzirkus. Angefangen hat alles als Studentengag, Raabe studierte Bariton und seine Musiker Betriebswirtschaft oder Raumfahrttechnik. Inzwischen sind es ausschließlich Profimusiker, das Orchester ist als Partnerschaft organisiert, Raabe Primus inter Pares. Die Geschäfte führen drei der Musiker. »Was wir machen, ist typisch deutsch und bedient Klischees. Aber mit Selbstironie und einem Humor, den man so nicht erwartet«, sagt Raabe. Es ist die Musik der späten Weimarer Republik. Damals war Deutschland Weltmarktführer in Sachen populärer Kultur und Berlin die verruchte Partyhochburg des Planeten. Diese Musik kennt man noch heute überall auf der Welt, weshalb sie sich prima als Exportgut eignet. Zudem hat sie den unbestreitbaren Vorteil, dass sie nicht altern kann, weil sie bereits alt ist, und keiner Mode mehr unterliegt. Am 27. August gibt das Palast Orchester in der Berliner Waldbühne ein Jubiläumskonzert: Zwanzig Jahre existiert das Palast Orchester nun schon und ebenso viele Kinder haben die Mitglieder der Partnerschaft in die Welt gesetzt. Die unmodische Musik gibt Sicherheit für die Zukunft. Kürzlich gab Raabe der Vogue ein Interview zusammen mit Marilyn Manson. Fragt man nach Gemeinsamkeiten zwischen Raabe und Manson, kommt wie aus der Pistole geschossen: Keine! Nun, zumindest haben beide den Soul-Klassiker Tainted Love neu interpretiert und auch den Alabama Song von Kurt Weill und beide waren dabei sehr eigen. Davon abgesehen sind beide Herren Kunstfiguren, bei denen die Gefahr besteht, dass sie die Rolle, die sie für die Bühne entwickelt haben, im Privaten nicht mehr ablegen können. Ein bisschen sei das schon so, sagt Raabe dann – »oder was meinen Sie?«. Er fragt das tatsächlich; und in diesem Moment zeigt sich die Unsicherheit, nicht mehr er selbst zu sein, ein Wesen erschaffen zu haben, das sich seiner Kontrolle entzieht. Raabe wischt dann kurz darauf die Zweifel beseite, indem er von Freunden berichtet, die ihn noch aus Schulzeiten kennen und die ihm bestätigen, eigentlich sei er schon immer so gewesen. Neben dem Revers findet sich bei Raabe grundsätzlich das Einstecktuch und seine Anzughosen trägt er die entscheidenden sieben Zentimeter zu kurz, was dem 43-Jährigen etwas Bubenhaftes verleiht. Raabe, der ewige Pennäler, wie herausgehüpft aus Rühmanns Feuerzangenbowle. »Ich war nie richtig jung«, hat er mal über sich gesagt, »also werde ich auch nie richtig alt.« Raabe bevorzugt angestaubte Wörter, gibt sich hochwohlerzogen, ist höflich bis zum Exzess. In seiner Kindheit, die er auf einem Bauernhof im Westfälischen verbracht hat, habe er mit seinen Freunden »Hochpfeifen« gespielt: Wer am höchsten pfeifen konnte, war der Sieger. Das alles legt aber nur den Schluss nahe, dass da einer durch ein Zeitloch gefallen ist, aus den goldenen Zwanzigerjahren mitten hinein in die Gegenwart. Auch wenn er’s vehement bestreitet.
Bei der Annäherung an Max Raabe drängt sich eine sehr private Frage auf, schließlich singt er so näselnd, beherrscht den Falsettgesang vorzüglich und wirkt insgesamt sensibel und feminin. Zum Glück waren die Kollegen von Bunte unverfroren genug, ihn direkt zu fragen, ob er denn das Bier, das er sich manchmal an der Tankstelle hole, mit einer Frau teile, worauf er sagte, ja, er habe eine Freundin, nein, darüber rede er aber nicht, weil er sie nicht in die Öffentlichkeit ziehen wolle, und nein, er habe ihr nicht singend den Hof gemacht, im Gegenteil: Zu Hause habe er striktes Singverbot. Raabe führt ein Leben in Nuancen. Der Musiker ist ein leiser Mensch, keiner, der sich in den Mittelpunkt drängen muss, einer, der eher am Rand steht, der sich im Hintergrund wohlfühlt. Allüren eines Stars sind ihm fremd. Zum großen Auftritt in Tokio geht es nicht in der Stretchlimousine, nicht im Bentley, nicht mal im Taxi, nein, Raabe fährt mit der U-Bahn. Hanne Berger, seine bezaubernde erste Geigerin, die aussieht wie Lauren Bacall in Farbe, trägt ihr Bühnenkleid über dem Arm. Als sich der Reporter um fünf Minuten verspätet und man dann auch noch an der falschen U-Bahn-Haltestelle aussteigt, was den engen Zeitplan endgültig ins Rutschen bringt, verzieht Raabe keine Miene. Ganz die Ruhe, Gelassenheit, Konzentration. Es ist ein feiner Unterschied, ob jemand eine Rolle spielt oder ob einer etwas ist. Für Raabe gilt Letzteres. Es muss einem die Musik nicht gefallen, man darf von den öligen Schlagern guten Gewissens Pickel am Po bekommen, aber das Feine, das Liebevolle, das Konzertante seiner Musik beeindruckt. Raabe parodiert nicht, er perfektioniert. Das Material für seine Lieder findet er auf Flohmärkten in Form von Schellackplatten und alten Noten, im UFA-Archiv mit seinen alten Filmmusiken oder im Kurt-Weill-Archiv, wo sich noch das ein oder andere Schmankerl versteckt. Ein Arrangeur macht die Stücke, die nicht für Tanzorchester geschrieben sind, fürs Palast Orchester zugänglich. Eine beeindruckende Diskografie hat sich so angesammelt. Genau 21 Alben und ein Repertoire von mehr als 400 Stücken. Raabe ist der Lordsiegelbewahrer einer ganzen Musikrichtung, einer neuen Klassik, deren hundertste Geburtstage er noch erleben wird. Das Restaurative kann man ihm dabei ebenso wenig vorhalten, wie man es einem Symphonischen Orchester ankreiden würde, dass es Beethoven spielt. Raabes Musik zu hören ist, wie einen gut gepflegten Oldtimer zu fahren. Die Musik müsste eigentlich rumpeln, knistern, knacken, blechern klingen. Tut sie aber nicht. Die Stücke, die Raabe ausgegraben hat, sind wie vergilbte, verknickte, abgeschabte Schwarzweißfotografien. Er bügelt sie aus, bleicht den Gilb, gibt Farbe hinzu. Dann kommt die Musik plötzlich so glanzvoll daher wie ein Stummfilm, der auf einmal bunt wird und eine Tonspur hat. Und lebendig wird. Das ist die Faszination des Ganzen.
Raabe liebt es, leise zu singen, sodass »die Stimme fast wegbricht, und gerade noch so als Faden dableibt«. Auch das Orchester kann sich unglaublich zurücknehmen. In der Dynamik zwischen Laut und Leise liegt der Reiz. »Ich singe auch ganz gerne mal laut oder sehr knarzig, wenn’s zur Musik passt, wenn’s alberne und lustige Texte sind, wie bei Amalie geht mit ’m Gummi-Kavalier ins Bad. Das Klangbild wird dadurch sehr harmonisch. Da-bub, da-bup. Das ist kein Swingen, sondern ein Wippen. Wir sind keine Swingband, sondern ein Schwupp-Orchester.« Die zwölf Musiker und ihr Solist sind sagenhaft eingespielt. Während der Probe zerlegt Michael Enders, der musikalische Leiter, den Schlager Das gibt’s nur einmal in seine Bestandteile, um ihn von einem Tanzstück in eine konzertante Fassung umzumodeln. Zwei Gesten an die Bläser, eine Ansage an den Flügel, eine an die Geigerin. Ein paar Notizen in den Noten. Das alles geht so schnell, dass der unbedarfte Zuschauer gar nicht bemerkt, was vor sich geht. Und dann hat das Orchester das Selbstvertrauen, das soeben arrangierte Stück nicht vollständig zu proben. Abends wird’s schon klappen. Den Schlager aus dem Film Der Kongress tanzt von 1931 hat man ins Programm genommen, weil er in Japan offenbar immer noch bekannt ist. Allerdings muss Raabe aufpassen, was genau er an deutschem Kulturgut in die Welt exportiert. In Amerika etwa hat man peinlich genau darauf geachtet, ausschließlich Stücke aus der Weimarer Zeit zu spielen. Also nichts, was im Entferntesten nach Krieg klingen könnte. Trotzdem geht manchmal ein Schuss daneben. Zum Beispiel der Rabatzschlager Schieß den Ball ins Tor, den Raabe zusammen mit Heino Ferch und Peter Lohmeyer für die Fußball-WM aufgenommen hatte. Im Video zu dem Titel mischt sich das »Wir waren mal was«-Gefühl der Zwanziger mit der »Wir sind wieder wer«-Attitüde der Fünfziger. Heraus kam eine Ästhetik, die irgendwo dazwischenliegt. Gefällt nicht jedem und vor allem nicht überall. Nach Japan jedenfalls hat der Kulturexport funktioniert, irgendwie klingt das Ganze nach deutscher Wertarbeit und hinterlässt eine Mischung aus Nostalgie, Melancholie und Bakelit-Gefühl. In China dagegen bestaunte man die unbekannten deutschen Instrumente. Und so bekam Raabe den befürchteten Kulturschock dann doch noch zu spüren. Während der Konzerte liefen Kinder durchs Auditorium, die Leute fotografierten, applaudierten inmitten der Stücke, und als das chinesische Lied vom kleinen Fluss erklang, griffen Hunderte zu ihren Handys und ließen die Lieben daheim mithören. Nach dem Konzert stürmte das Publikum die Bühne. Der sonst so kontrollierte, auf Sorgfalt, Ordnung und Akkuratesse bedachte Herr Raabe zeigte sich amüsiert – und badete im Tohuwabohu.