Zu dem Ort, den es nicht geben dürfte, fährt neunmal täglich ein Bus. Von Palma braucht die Linie 18 eine halbe Stunde hin, eine halbe zurück, von neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends. An diesem Tag ist Busfahrer Gabriél Reynes, 51, auf seiner letzten Tour, Abfahrt fünf Uhr in Palma. Die Strahlen der untergehenden Sonne tauchen die Stadt in das Licht, für das Mallorca berühmt ist, und in den Gassen schieben die Kellner Tische und Stühle vor den Tapas-Bars zurecht. In Reynes’ Bus sitzen nie Urlauber, nicht mal für ein paar Stationen. Stattdessen sind die Bänke wie immer von Junkies besetzt: Diesmal sind es neun und das Schaukeln lässt ihre Augenlider noch schwerer, ihre Bewegungen noch langsamer werden. Dann fallen sie in einen dumpfen Drogenschlaf, die Münder offen, die Gesichter fahl: ein Bus voller Zombies. »Mir macht das nichts«, sagt Reynes, »solange sie mich in Ruhe lassen.«
Der Weg zum verbotenen Dorf führt hinaus aus der Stadt, in Richtung Coll d’en Rabassa und das Gewerbegebiet Son Ferriol. Abends, wenn es dunkel wird auf der Insel und sich die Bergrücken wie violette Zacken am Abendhimmel abzeichnen, nimmt der Verkehr in das Dorf zu. Dann schiebt sich eine Autokolonne am Lebensmittelgroßmarkt vorbei und bald steht auch die Linie 18 im Stau – Stoßstange an Stoßstange mit zerbeulten Kleinwagen und polierten Limousinen, Frauen und Männern, Jungen und Alten, die alle nur aus einem einzigen Grund hier sind: um Drogen zu kaufen. Viele tausend Menschen kommen an einem ganz nor-malen Wochenende hierher, in Mallorcas Drogendorf Son Banya.
Gleich hinter den Großmarkthallen liegt es, dieses Dorf: geduckte Hütten und ausgefranste Lichtkegel, die zu einem nebligen Wesen zusammenklumpen. Das ist die Endstation der Linie 18. Kurz bevor Reynes den schmutzigen Vorplatz von Son Banya erreicht, kommt Leben in den Bus. Reynes stellt den Motor ab. »Drei Minuten«, ruft er den Junkies zu, »keine Sekunde länger.«
Son Banya ist ein Ort, an dem kein Recht mehr herrscht, der Staat nicht mehr greift, ein Schattenreich. Ungefähr 450 Menschen leben in der Siedlung, »Gitanos«, wie die Spanier die verhasste und unterdrückte Roma-Minderheit nennen. Männer, Frauen und Kinder verkaufen aus den Fenstern ihrer Häuser Drogen, Heroin und Kokain, wie an Verkaufsständen eines riesigen Einkaufszentrums – 24 Stunden am Tag. Sie leben in ebenerdigen Baracken, die die Franco-Regierung 1969 errichtete, um die Gitanos an einer Stelle der Insel zu konzentrieren. Aus der Vogelperspektive sieht das Dorf aus wie ein Dreieck, an dessen Spitze ein Platz mit einem Flachbau liegt, in dem eine Kirche und ein Supermarkt untergebracht sind. Sogar dort kann man Drogen kaufen. Vorsichtig müssen die Menschen in Son Banya nicht sein, denn Polizisten wagen sich nur noch sehr selten und mit ganzen Hundertschaften in den Ort. Das hier ist die dunkle Seite des Ferienparadieses, von dem Mallorcas 16 Millionen Touristen nichts wissen: In den Reiseführern von Baedeker oder dem ADAC, von Marco Polo oder Polyglott steht nichts von diesem Dorf. Auf den Landkarten, die den Büchern beiliegen und schöne Wanderwege und Strandabschnitte zeigen, ist die Siedlung noch nicht einmal verzeichnet.
Brennt an einem Haus ein Licht, gibt es dort Kokain zu kaufen. An diesem Abend brennen 15, zwanzig Lampen an den Baracken und Gruppen von Menschen warten vor den Fenstern in der Schlange wie beim Bäcker. Die Verkaufshäuschen für Heroin sind nicht so einfach zu finden: Ähnlich wie Platzanweiser warten Junkies, die man »Puntos« (»Punkte«) nennt, in den Straßen und führen andere Junkies zu den ständig wechselnden Verkaufsstellen. Im Licht der brennenden Öltonnen setzen sich manche den Druck auf offener Straße. Wer mit seinem Auto nach Son Banya fährt, muss es absperren: Die Kinder brauchen hier nur Sekunden, um es auszuräumen. Dann lachen die Gitanos: »Die kleinen Racker müssen doch üben«, sagen sie.
In der Siedlung türmen sich Schrott und ausgebrannte Wagen, dazwischen grasen Ziegen und Esel, Kinder in zerrissenen Jogginghosen spielen an einer brennenden Öltonne. Ein Mann spaziert zwischen dem Müll mit einem Kampfhund umher, dem er ein Nietengeschirr als Gesichtsschmuck angelegt hat. Die Männer tragen Ballonseide und lungern vor den Baracken herum. Frauen mit Zöpfen und Trainingsjacken zu Röcken sitzen auf verrosteten Gartenstühlen. In einem Maschendrahtkäfig haust ein Affe.
Mehr als neunzig Familien, die zu verschiedenen Clans gehören, leben in Son Banya. Die Familienmitglieder wechseln sich mit dem Drogenverkauf ab, Mütter, Großväter und auch Jugendliche, denn die Hälfte aller Einwohner Son Banyas ist unter 19 Jahre alt. Jeder, der hier einkauft, kennt die Spitz-namen der Drogenhändler, sie heißen La Guapi (»die Schöne«), La Gorda (»die Dicke«), El Moreno (»der Dunkle«). Aus ihren Häusern können die Familien beobachten, wie die Chartermaschinen landen und die Sonne sich am weißen Lack der geparkten Privatflugzeuge bricht – so nah liegt der Ort am Flughafen von Palma.
Früher herrschte ein Patriarch über das Dorf, doch seitdem er vor ein paar Jahren starb, zerfällt es in Anarchie. Mächtige Clanchefs unterdrücken ärmere Familien und zwingen sie, wie Sklaven in drei Schichten à acht Stunden Drogen zu verkaufen. Sie verbieten jedem, Umsiedlungsprogramme der Behörden anzunehmen, und vermieten sogar Häuschen an Afrikaner oder Kolumbianer, die ein eigenes Drogengeschäft eröffnen wollen – angeblich für 6000 Euro im Monat. Viele von Son Banyas Einwohnern können nicht lesen oder schreiben, Kinder gehen nicht zur Schule, Arbeit gibt es nicht. Trotzdem parken auf den Straßen in Schutzhüllen eingepackte Ferraris, Maseratis und BMWs und manches Badezimmer in den Baracken glänzt in Gold und Marmor: Bis zu 300 000 Euro kann eine Verkaufsstelle im Monat bringen, berichten Zeitungen. Die Drogen haben viele Familien so reich gemacht, dass manche ihr Bargeld in Tonnen vergraben. Andere kaufen sich Trabrennpferde oder Landhäuser, in die sie aber allenfalls Wochenendausflüge unternehmen – in großen Villen zu wohnen gefällt den Familien nicht. Umso mehr lieben sie den Tanz, Musik, lange Feste, schnelle Pferde, wilde Tiere. Als in Palma ein Zirkus gastierte und ein Puma verschwand, fand man ihn in Son Banya wieder.
Um in dem Drogendorf einzukaufen, braucht man nur drei Worte: »Hola – Medio – Gracias«, auf Deutsch: »Hallo – ein halbes Gramm – Danke«. Ein halbwüchsiger Junge mit Igelfrisur und Trendturnschuhen an den Füßen, vielleicht 15, 16 Jahre alt, steht hinter dem vergitterten Fenster und nimmt die Scheine an, dreißig Euro für ein halbes Gramm. In der schmutzigen Küche hinter ihm sitzen sieben Frauen um einen Tisch mit einer bunten Decke, vor sich eine Salatschüssel voll Kokain, neben ihnen sechs elektronische Waagen. Kinder ohne Hosen spielen auf dem Boden, aus ihren Nasen fließt Rotz, der ihnen die Gesichter verklebt. An den Wänden hängen Familienfotos in Goldrahmen und auf einer Anrichte liegt eine gebrauchte Windel. Die Frauen reden und kichern, während sie das Kokain in Plastikfolien packen und kleine Bällchen daraus drehen, ein Bällchen zu einem hal-ben Gramm. Die Bällchen werfen sie in einen durchsichtigen Eimer, groß wie eine Mülltonne, Tausende sind schon darin. Im Hintergrund läuft der Fernseher, ein riesiger Plasmabildschirm, neuestes Modell. Der mit den Trendturnschuhen reicht die Bällchen durch das Fenster nach draußen. Das alles dauert nicht länger, als einen Hamburger bei McDonald’s zu bestellen.
In Mallorca kennt jeder das Drogendorf, die Mallorquiner nennen es »Supermercado« (»Supermarkt«) oder einfach nur »Poblado«, das »Dörfchen«. Auch Mallorcas Journalisten haben sich schon viele Ausdrücke für Son Banya einfallen lassen, in ihren Schlagzeilen titeln sie Das Drogenlabyrinth, Die Drogenhölle oder einfach nur Der Schandfleck. Einer der Journalisten ist Pep Matas, 48, Polizeireporter bei Ultima Hora, Mallorcas größter Boulevardzeitung. Nur zwanzig Minuten von Son Banya entfernt, in den Redaktionsräumen an Mallorcas Prachtstraße Paseo Mallorca, tippt Matas an diesem Abend einen Artikel für die morgige Ausgabe. Matas ist ein hagerer Typ mit einem tätowierten indischen Friedenszeichen auf dem Arm und dunkel verfärbten Zähnen von den Selbstgedrehten. Als Handy-Klingelton hat er das Heulen einer Polizeisirene gewählt – Matas arbeitet seit zwanzig Jahren als Polizeireporter. Anfang der neunziger Jahre hat er die ersten von mittlerweile mehr als hundert Artikeln über das Dorf geschrieben, in einer Zeit, als der Patriarch den Drogenverkauf damit rechtfertigte, dass den Gitanos in der spanischen Gesellschaft keine andere Wahl bleibe. Heute sagt Matas: »Über dieses Dorf zu schreiben ist wie ein und denselben Dieb zwanzig Mal hintereinander einzusperren.«
Seitdem Matas Luftbilder des Ortes veröffentlichte, auf denen mit Pfeilen und Namen markiert war, welcher Dealer in welchem Haus welche Droge verkauft, lebt er gefährlich. Er wurde verprügelt, mit Waffen bedroht, und der Sohn von »La Paka«, einer der Clanchefinnen, setzte eine Belohnung von 30 000 Euro auf seinen Kopf aus. Gegen den Voodoo, den die Gitanos gegen ihn einsetzen, zündet Pep Matas weiße Kerzen an.
Immer wieder stürmen Polizisten das Dorf, beschlagnahmen Drogen, Waffen, Hehlerware, Bargeld, und ein paar Dealer gehen ins Gefängnis. Keine der Razzien aber konnte den Drogenhandel dauerhaft eindämmen. 2001 holten die mallorquinischen Behörden zu einem ersten großen Schlag aus, als die Nationalpolizei vom Festland zur Sicherung eines Fußballspiels im Einsatz war und endlich genügend Beamte für die Operation »San Quintín« zur Verfügung standen: 120 Polizisten mit Spürhunden durchsuchten den Ort, verhafteten 18 Personen, stellten Hehlerware im Wert von 150 000 Euro sicher, beschlagnahmten aber nur 300 Gramm Drogen – in vielen Häusern stießen die Polizisten auf Toilettentüren aus Panzerstahl, so dass genügend Zeit blieb, die Drogen hinunterzuspülen. Nur wenige Tage später ging der Drogenhandel weiter. 2004 fand eine Hundertschaft von Polizisten immerhin schon 7,5 Kilo Kokain, dazu 700 000 Euro Bargeld, Schmuck, Luxusautos. Doch der Drogenhandel blühte bald schon wieder auf. Kurz vor dem Osterbesuch des Königs auf der Insel führte die Polizei in diesem Jahr erneut eine Razzia durch, ausgedehnt auf mehrere spanische Städte wie Valencia und Castellón. Sie verhafteten insgesamt 38 Personen, beschlagnahmten 12,3 Kilo Kokain sowie 144 300 Euro und deckten Verbindungen bis nach Kolumbien auf. Damit zerschlugen sie zwei Familienclans. Doch während der Razzia, die um ein Uhr nachts endete, warteten bereits Hunderte von Autofahrern vor dem Dorf darauf, dass die Polizisten abziehen und der Handel weitergehen würde.
Mitten auf Europas beliebtester Ferieninsel ist ein Problem herangewachsen, vor dem nicht nur Behörden und Politiker, sondern ein ganzes Gesellschaftssystem kapituliert: Man kann das Dorf nicht einfach schließen, abreißen oder seine Bewohner gar zwangsumsiedeln – immerhin sind es spanische Staatsbürger. Man kann auch nicht alle seine Bewohner ins Gefängnis sperren. Für Palmas Staatsanwaltschaft scheint es unmöglich, den Drogenhandel aller Clans mit seinen undurchsichtigen Verstrickungen nachzuweisen, denn die Clans schützen sich gegenseitig, Zeugen sagen gar nicht oder falsch aus. In Palma erzählt man sich, wie vor ein paar Jahren zwei Chinesen in Son Banya erschossen wurden und sich nach langen Ermittlungen ein geständiger Mörder freiwillig meldete: ein Junkie mit Aids im Endstadium.
Also versucht es Palmas Staatsanwaltschaft wie zu Zeiten Al Capones mit einer Anklage wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung und stellt 26 Angeklagte vor Gericht, die mehrere Landgüter, Stadthäuser, Autos, ein Baugrundstück und einen Trabrennstall gekauft haben. Doch unter diesem Mammutverfahren droht Mallorcas Justiz zu kollabieren: eine Verhandlung dieser Größe blockiert den Gerichtshof mindestens drei Monate lang, und es bleibt unsicher, ob der Staatsanwalt die Schuld beweisen kann. »Also werden die Anwälte einen Handel abschließen«, sagt Pep Matas. »Und so bleibt in Son Banya wieder alles beim Alten.«
Vor dem Gerichtsgebäude in Palma stehen Kampfeinheiten der Nationalpolizei mit Maschinenpistolen in der Morgensonne. Vor kurzem gab es einen Brandanschlag auf das Gericht, bei dem viele Akten verbrannten – jetzt wurden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Es ist der fünfte Verhandlungstag im Geldwäsche-Prozess um Son Banya. Im Gerichtssaal sitzen der Staatsanwalt, sechs Richter, 26 Angeklagte – und die 16 Staranwälte der Gitanos. Der Staatsanwalt Juan Carrau steht an einem riesigen Schaubild und erklärt der Obersten Richterin, wie die Angeklagten miteinander verwandt, verheiratet oder verschwägert sind und wer sich untereinander welches Geld geliehen, vererbt, geschenkt hat, um damit Häuser zu kaufen. Schon allein die Nachnamen der Angeklagten verwirren: Amaya Fernández, Fernández Cortes, Cortes Picazo. Als die Richterin fragt: »Wer ist Juan Amaya Amaya?«, heben gleich zwei Männer die Hand. Die Angeklagten haben sich Sonnenbrillen aufgesetzt, um sich gegen die Kameras der Journalisten zu schützen: Männer und Frauen, Mädchen mit Goldschmuck, Jungs in Trainingsjacken und ein Einbeiniger. Doch ihre Stimmung erinnert an die einer Schulklasse, die kurz vor den Ferien steht: Hinter verschlossenen Türen haben die Anwälte bereits den Pakt mit dem Staatsanwalt geschlossen. 23 von ihnen werden sich schuldig bekennen, eine Million Euro Strafe zahlen, ihre Immobilien werden zwangsversteigert. Dafür kommen sie straffrei davon.
»Eigentlich ist es schade um den Fall«, sagt Antonio Alberti Caimari, einer der Staranwälte, nach der Verhandlung und bläst den Rauch seiner Zigarette in die Mittagshitze. Er hat perlmuttfarbenes Haar, trägt eine rosa Krawatte und eine Sonnenbrille am Hemd. Alberti Caimari, 57, war im Herbst 1977 eine der Geiseln in der entführten Landshut-Maschine in Mogadischu und hat sich seit der Befreiung durch die GSG 9 eine grundsätzliche Sympathie für Deutsche bewahrt. Nur aus diesem Grund gibt er überhaupt Auskunft über den Fall. »Mich hätte interessiert, ob der Staatsanwalt das alles hätte beweisen können«, sagt er. Alberti Caimari vertritt drei der Angeklagten. Ob man mit ihnen sprechen könnte? »Die reden mit keinem, nicht mal mit mir!«, sagt er und erzählt, wie seine Klienten mit dreißig, vierzig Familienmitgliedern und deren Kindern in seiner Kanzlei sitzen, aber nur ein Ausgewählter spricht. »Die waren ja total überrascht, als sie wegen Geldwäsche angeklagt wurden. Sie wussten gar nicht, dass das verboten ist.« Eine der Frauen hatte sogar versucht, 90 000 Euro auf ein Bankkonto einzuzahlen. »Die wussten einfach nicht, wohin mit ihrem Geld.«
Nur ein paar Schritte vom Gerichtsgebäude, einen kleinen Spaziergang durch die verwinkelten Gassen der Altstadt entfernt, liegt das Rathaus von Palma. Urlauber fotografieren es gern, weil es mit seinen bunten Flaggen wie eine mittelalterliche Burg aussieht. Hier spricht man nur ungern über Son Banya, schon gar nicht mit einer deutschen Zeitung. Jeder zwanzigste Deutsche besucht mindestens einmal im Jahr Mallorca und mit 800 Maschinen am Tag ist der Flughafen bei Palma einer der verkehrsreichsten in ganz Europa. Nur Eberhard Grosske, Stadtrat der links gerichteten Umweltpartei, schimpft öffentlich über Polizei, Rathaus, Staatsanwaltschaft und Sozialdienste, die das Problem seit Jahren hin und her schieben. Die Mitarbeiter der Uniklinik Mallorcas nennen den Montag schon den »Kokstag«, wenn die Menschen aus dem Wochenende mit Herzrasen, Halluzinationen, Brustschmerzen kommen. Von allen Vergiftungsnotfällen werden dreißig Prozent wegen Kokain eingeliefert und der Leiter des toxikologischen Komitees des Krankenhauses schätzt, dass Kokain schon im nächsten Jahr als Vergiftungsursache Nummer eins den Alkohol ablösen wird. Vor lauter Ärger hat Grosske schon der spanischen Prinzessin Letizia von Mallorcas Drogendorf erzählt: »Da hat sie große Augen gemacht! Sie ist ja auch Journalistin.« Trotzdem halten es viele Politiker Mallorcas für einen Vorteil, dass der Drogenhandel der Insel auf einen Punkt konzentriert ist – so könne man ihn besser kontrollieren. »Und was haben wir davon? Dass der Steuerzahler auch noch den Unterhalt des Dorfes bezahlen muss, 250 000 Euro im Jahr für Müll, Strom und die städtischen Busse – die dann auch noch als Kurierfahrzeuge missbraucht werden!«, ruft Grosske und lockert seine Krawatte.
Dann geht der Tag auf Mallorca zu Ende und die Sonne schimmert in diesem Goldton, der sich auf Urlaubsschnappschüssen besonders gut macht. Eberhard Grosske sperrt sein Büro im Rathaus zu, der Journalist Pep Matas verlässt die Redaktion und geht zum Yoga, Antonio Alberti Caimari fährt seinen Computer in der Anwaltskanzlei herunter, die Urlauber an den Stränden packen ihre Schirme ein und auf dem Weg ins Drogendorf stauen sich die Autos zu langen Kolonnen. Die Sonnenstrahlen färben die Mandelbäume rosa und lassen den schmutzigen Ort fast unwirklich erscheinen: wie einen Unfall im Paradies.
Auf dem Vorplatz von Son Banya steht wieder der Bus von Gabriél Reynes und wartet. Drei Minuten: Erst dann darf Reynes den Bus wenden und in die Stadt zurückfahren – so lautet die Vorschrift. Wenn es die Junkies in dieser Zeit vom Drogenkauf nicht zurück schaffen, müssen sie bei der nächsten Fahrt ein neues Ticket lösen – da ist Reynes eisenhart. Diesmal schaffen es nur drei, außer Atem springen sie in die letzte Reihe. Zwei waren von vornherein zu schwach, um in das Dorf zu laufen, sie kaufen schlechten, gestreckten Stoff von halbwüchsigen Jungs, die auf BMX-Rädern aus dem Dorf zum Bus gefahren kommen. Reynes zuckt die Achseln und fährt wieder los. Als er im Rückspiegel sieht, wie die Fahrgäste in der letzten Reihe mit den Drogenkügelchen zu hantieren beginnen, tritt er in die Bremsen und lässt die Türen aufspringen: »Nicht in meinem Bus! Ihr fliegt sofort raus hier!«, schreit er. Reynes startet den Bus erst wieder, nachdem die drei ihre Drogen verpackt haben.
Drei-, viermal pro Woche muss Reynes seinen Bus auf diese Weise anhalten, ein-, zweimal wöchentlich schmeißt er jemanden hinaus. Damit ähnelt Gabriél Reynes mit seinem Bus der ganzen Insel Mallorca, die das Drogendorf seit vielen Jahren duldet und nur manchmal ein paar Dealer aus dem Dorf wirft.
Foto: dpa