Im niederbayerischen Deggendorf braucht Thilo Sarrazin fast eine Stunde, bis er das erste Mal von Kopftuchmädchen spricht. Der Moment wirkt wie ein Weckruf, ein Ruck geht durch das Publikum. »Endlich!«, sagt ein Mann mittleren Alters in der letzten Reihe und hebt den Kopf, um besser zuhören zu können. Er hat zwanzig Euro Eintritt bezahlt, um Sarrazin live zu erleben. Doch er wird enttäuscht. Kein provokantes Zitat, nicht mal ein lockerer Spruch über mit Gemüse handelnde Türken oder Araber. Die anwesenden Journalisten der Lokalpresse schauen ebenso ratlos drein wie das TV-Team, das einen Film über ihn dreht. Selbst auf die Frage aus dem Publikum, wie man es schaffen könne, die Türken in Deutschland wieder in ihre Heimat zu schicken, damit sie den Deutschen nicht auf der Tasche lägen, antwortet Sarrazin emotionslos: »Ich habe nichts gegen türkische Menschen. Wenn sie gut Deutsch sprechen, einen ordentlichen Beruf ausüben, unsere Gesetze achten und sich an unsere Sitten und Gebräuche anpassen, ist nichts gegen sie einzuwenden.« Das klang schon mal anders. Der Mann in der letzten Reihe sackt wieder in sich zusammen.
Sarrazins Auftritt in Deggendorf Ende Juni ist so etwas wie der erschlaffte, abgekühlte Ausgang der hitzigsten deutschen Kontroverse seit dem Historikerstreit zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas Mitte der Achtzigerjahre. »Jede Siegesserie geht einmal zu Ende, jede Welle erreicht irgendwann den Strand, es konnte ja nicht ewig so weitergehen«, sagt Sarrazin nach seinem Vortrag. Er meint damit, dass in Deggendorf statt der erwarteten tausend Besucher nicht einmal 200 gekommen sind. Sarrazin wirkt nicht wirklich traurig darüber, aber er ist erschöpft. Das merkt man daran, dass er stottert. Er stottert immer, wenn er müde ist. Das Stottern, sagt Sarrazin, komme von einer Operation am Facialisnerv vor sieben Jahren. Der Facialisnerv steuert dreißig Gesichtsmuskeln. Seit dem Eingriff ist Sarrazins rechte Gesichtshälfte gelähmt, sein rechtes Augenlid hängt etwas herab. Häufig zuckt es auch unkontrolliert. Daher hat man im Gespräch mit ihm manchmal die Vermutung, er zwinkere einem freundschaftlich zu. Aber das ist absurd. Thilo Sarrazin zwinkert nie.
Fast ein Jahr ist es nun her, dass der Jahresbestseller 2010 Deutschland schafft sich ab erschienen ist. Politiker, Journalisten und Wissenschaftler zankten sich monatelang über die Bedeutung dieses Buches. Angela Merkel nannte das Buch »dumm« und »nicht hilfreich« in Sachen Integration, SPD-Chef Sigmar Gabriel verlangte Sarrazins Ausschluss aus der Partei, sogar Bundespräsident Christian Wulff mischte sich ein, indem er feststellte: »Der Islam gehört zu Deutschland.« FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher dagegen verstieg sich zu der These, es gehe im Fall Sarrazin um nichts weniger als die Meinungsfreiheit, der Publizist Henryk M. Broder sprach sogar von einer »Hexenjagd« gegen Sarrazin. Die Debatte hat das Land zweifellos gespalten, in Sarrazin-Befürworter und Sarrazin-Gegner. Aber was ist eigentlich mit Thilo Sarrazin? Hat die Debatte auch ihn verändert? Wie hat er das vergangene Jahr erlebt?
München, Reithalle, Ende September 2010. Angekündigt ist eine Podiumsdiskussion zwischen dem Handelsblatt-Chefredakteur Gabor Steingart, dem Münchner Soziologieprofessor Armin Nassehi und Sarrazin. Aber Steingart und Nassehi werden vom Publikum niedergebuht oder ausgepfiffen, sobald sie sich zu Wort melden. Sarrazin sitzt, die Beine über Kreuz, auf dem Podium, seine Hände liegen ruhig im Schoß. 800 Zuhörer sind gekommen, die Reithalle ist ausverkauft. Wie alle seine Auftritte zu dieser Zeit. Vielleicht muss man anstatt Auftritt oder Podiumsdiskussion auch Kundgebung dazu sagen. Denn die Menschen in der Reithalle huldigen ihm. Standing Ovations, »Bravo«-Rufe, donnernder Applaus. Sarrazin ist der neue Star in Deutschland, sein angeblicher Mut, das auszusprechen, was sich der »kleine Mann auf der Straße« nicht traut, hat ihn innerhalb weniger Wochen zum Anführer der deutschen Wutbürger gemacht. Sarrazin genießt den Zuspruch des Publikums. Nach Wochen der »Unterdrückung und Verleumdung«, wird Sarrazin später sagen, »waren das Momente, die unter die Haut gingen«.
Sarrazin will kein Goebbels sein
In manchen Zeitungen steht, dass ein »Hauch von Sportpalast« die Halle durchwehte. Ist das da vorn also der neue Joseph Goebbels? »Wenn ich gewollt hätte«, sagt Sarrazin Monate später in seinem Haus im Berliner Westend, »wenn ich ein begabter Redner wäre wie Herbert Wehner, was ich nicht bin, hätte ich eine Staatskrise auslösen können.« Aber Sarrazin will nicht. Er ist nicht Joseph Goebbels. Und im Publikum sitzen auch keine Skinheads, im Publikum sitzen gediegene Mittvierziger in beigefarbenen Cordhosen und blauem Hemd, der gepflegte Vorstadtadel aus Starnberg und ein paar stramme CSU-Politiker, die sich wahrscheinlich gerade fragen, warum ausgerechnet ein Sozi ihre Wähler und sie selbst so begeistert.
Das deutsche Sommermärchen, das friedliche Dauerkuscheln zwischen Deutschen und Migranten, ist mit dem Auftritt in München endgültig ausgeträumt. »Multikulti ist tot«, sagt CSU-Chef Horst Seehofer einige Tage später, »gescheitert«, sagt Angela Merkel. Die breite Zustimmung aus der Bevölkerung lässt die Bundeskanzlerin, die noch vor Wochen gegen Sarrazin wetterte, zum Teil umschwenken. »Dass die Strukturen des politischen Betriebs verkrustet waren, wusste ich aus eigener Erfahrung«, sagt Sarrazin. »Dass sich der Druck in der Bevölkerung über Jahre angestaut hatte und nach einem Ventil suchte, um endlich auszubrechen, das habe ich natürlich erkannt.« Das ist, wenn man so will, Sarrazins Verdienst. Im wahrsten Sinn des Wortes: Mit dem millionenfachen Verkauf seines Buches ist er selbst zum Millionär geworden. »Bei 30 000 verkauften Büchern wäre ich zufrieden gewesen, bei 300 000 wurde meine Brust schon breiter, als es dann über eine Million verkaufter Exemplare waren, bin ich vor Stolz natürlich fast geplatzt. Das würde aber jedem Autor so gehen«, sagt Sarrazin.
Anfang Januar 2011. Das Namensschild an der Klingel ist entfernt worden. »Auf Anraten des LKA Berlin«, sagt Sarrazin, als er die Tür öffnet. Er trägt eine dunkle Jeans, einen schwarzen Pullover, dunkle Socken, offene Hausschuhe. Schon im Flur riecht es nach Kaffee, der in einer weißen Kanne auf dem Wohnzimmertisch steht. Die Sarrazins wohnen nicht gerade feudal. Millionäre, denkt man, wohnen prunkvoller. Aber das zweistöckige Häuschen im Berliner Westend ist in die Jahre gekommen, Parkett- und Teppichboden wechseln sich ab, es stehen nicht viele Möbel herum. Im Esszimmer ein großer ovaler Holztisch, eine Kommode und ein Schrank mit Vitrine für das gute Geschirr. Im Wohnzimmer Sofa, Fernseher, rechts geht es ins Bücherzimmer, die Wandregale stehen voll, eine Enzyklopädie, die Klassiker, Goethe, Schiller … Nick Hornby?
»Ja, lese ich gern, warum denn nicht?« Entlang der Treppe vom Erdgeschoss nach oben zum Arbeitszimmer hängen an der Wand einige Fotos, die Sarrazin vor Jahren selbst geschossen hat: Bäume ohne Blätter, Seen ohne Menschen, unbewohnte Landschaften im Spätherbst. Ohne Zweifel gelungene Fotografien. Technisch einwandfrei. Schön anzusehen, melancholisch. Aber die Fotos zeugen auch von einer gewissen Leere, von Einsamkeit, sie zeugen von einem sehr eigenen Blick auf die Welt.
Thilo Sarrazin ist 66 Jahre alt, hat eine respektable Beamten- und Politikerlaufbahn hinter sich, ist seit 1973 Mitglied der SPD, saß bis September im Vorstand der Bundesbank. Rund dreißig Jahre war er ein gehorsamer und eher stiller Verwaltungsbeamter, ein nicht-öffentliches Rädchen im Getriebe. Dann sprang er von einem auf den anderen Tag als Berliner Finanzsenator ins Rampenlicht, machte dort – wie Helmut Schmidt sagt – einen »hervorragenden Job« und begann, sich mit provokanten Sprüchen zu Hartz-IV-Empfängern und Kopftuchmädchen deutschlandweit einen Namen zu machen. Aber was für einen? Und: Warum?
Die Motivation der Provokation
Ex-Bundesfinanzminister Theo Waigel vermutet, Sarrazin sei beruflich schlicht nicht ausgelastet gewesen. Ein anderes Motiv sehe er nicht. Er könne sich aber beim besten Willen nicht erklären, warum sein ehemaliger Mitarbeiter … Waigel bricht den Satz ab, er wolle sich kein Urteil erlauben, schließlich habe er das Buch immer noch nicht gelesen. Ja, eigensinnig und dickköpfig sei er immer schon gewesen, der Thilo: »Ich denke, ihm war sehr bewusst, dass er sich da auf vermintes Gebiet begibt.«
Der Schweizer Publizist und Herausgeber der Weltwoche, Roger Köppel, ein Verteidiger von Sarrazins Thesen, sagt: »Sarrazin ist ein klassischer deutscher Bildungsbürger mit einem intellektuellen Überlegenheitsgefühl, der sich Sorgen um sein Land macht. Er hat vor allem die Missstände bei der Integration von Muslimen und die Folgen unkontrollierter Zuwanderung aus Kulturen, denen unsere Sitten fremd sind, aufgedeckt. Man wollte ihn politisch zur persona non grata erklären, doch der Erfolg seines Buches gibt ihm recht.«
Zu geringe berufliche Auslastung? Sorge um sein Land? Und die Genugtuung, allen früheren Kollegen und Kritikern eins ausgewischt zu haben? »Das sind alles Mutmaßungen. Ich äußere mich nicht zu Spekulationen über meine Person«, sagt Sarrazin. Aber man hat ihn in den vergangenen Monaten einen »Hetzer« und »Rattenfänger« genannt. Man schimpft ihn »Rassist«. Kränkt ihn das nicht? Was für ein Sozialdemokrat ist er eigentlich, wenn ihn das nicht stört?
Sarrazin bleibt auch bei aggressiveren Fragen äußerlich gelassen. Ein Medienprofi. Dennoch erkennt man, wenn man ihn ein bisschen besser kennenlernt, Bewegungen, Zuckungen, Regungen, die darauf schließen lassen, dass ihn diese Fragen mehr bewegen, als er zugibt. Er lehnt sich in seinen Wohnzimmersessel zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Er fasst nur sehr langsam Vertrauen, gibt selten etwas Persönliches preis. Er sieht darin eine Schwäche. Und vielleicht ist eben das seine größte: Er kann keine Schwäche zeigen, keine Fehler einräumen, das geht ihm gegen den Strich.
Als viele Politiker und Journalisten über ihn herfielen, damals, kurz vor Erscheinen seines Buches, »da habe ich im Innern gewankt«, sagt er heute, »aber ich bin nicht gefallen«. Als er spürt, dass weite Teile der Bevölkerung seine Thesen unterstützen, fasst er in Absprache mit seiner Frau Ursula den Entschluss, den Kampf bis zum Ende durchzufechten. »Komme, was da wolle.« Er ist zu der Zeit fast jeden Tag in einer anderen Stadt: TV-Talkshows, Radio-Interviews, Vorträge. »Ich bin nicht auf einem Kreuzzug, ich bin kein Märtyrer«, sagt Sarrazin in seinem Wohnzimmersessel, »aber wenn sich keiner gegen die Einengung des Meinungsklimas in unserem Land stemmt, könnte es sein, dass wir bald wieder in einer Diktatur aufwachen. Die Zeichen dafür stehen jedenfalls günstig.« Das meint er ernst.
Nicht mehr nur der Mann hinter den Kulissen
Deshalb steht er auch heute zu seinen Äußerungen über muslimische Migranten. »Ob das nun gelungen war oder nicht, es hat gewirkt«, sagt er. Mit seinen Thesen Wirkung entfalten, ins Gewicht fallen, etwas gelten – das ist seine Maxime. Einerseits ist Thilo Sarrazin diszipliniert, loyal und treu. So war er als SPD-Finanzbeamter unter dem CSU-Bundesfinanzminister Theo Waigel. Andererseits sucht Sarrazin die Konfrontation, fährt Kampflinie, ist eigensinnig, besserwisserisch und herrisch. So war er als Chef, als erfolgreicher Finanzsenator von Berlin. Vor allem aber will er wahrgenommen werden, besonders jetzt, wo er keine offizielle Funktion mehr ausfüllt.
Jahrelang war er nur der Mann hinter den Kulissen. Er war Referats- und Büroleiter im Bundesarbeitsministerium und im Bundesfinanzministerium, er war Staatssekretär in Rheinland-Pfalz. Allesamt ehrenhafte und gut dotierte Stellen mit viel Verantwortung. Er war der Experte für die wirklich hohen Tiere, der Streber und Aktenfresser für die wirklich wichtigen Entscheidungen, unerlässlich irgendwie, aber auch unbekannt. In einem Interview prahlte er im Mai 2010 zum Währungsunions-Jubiläum von Bundesrepublik und DDR: »Es war keiner da, dem etwas einfiel, außer mir.« Und wenn man Sarrazin nach seinen beruflichen Stationen fragt, kommt die Antwort im Stakkato: »Ich habe am SPD-Parteiprogramm 1973 gearbeitet, damit die Passagen zur Ökonomie einigermaßen vernünftig waren. Ich habe als Ministerbüro-Leiter den Bundeshaushalt saniert, ich habe die Deutsche Bahn konsolidiert, ich war in den Achtzigerjahren Leiter des Referats ›Finanzfragen des Verkehrs, Bundesbahn und Bundespost‹. Eigentlich ein unscheinbarer Titel, aber wenn ich ›nein‹ sagte, stand alles still – einschließlich des Bundespostministers. Ich habe die deutsch-deutsche Währungsunion gemacht, ich habe die Treuhandanstalt beaufsichtigt, ich habe den rheinland-pfälzischen Haushalt sechs Jahre lang saniert, ich war ein paar Jahre Geschäftsführer der Treuhandliegenschaftsgesellschaft. Und dann«, sagt Sarrazin nach einer kurzen Pause, »war ich sieben Jahre Berliner Finanzsenator.« So klingt ein Mann, der um Anerkennung kämpft, weil er davon überzeugt ist, dass sie ihm zusteht.
Ein paar Tage später in Dresden. Es ist Mitte Januar. In Sachsens Hauptstadt leben 520 000 Einwohner, nur vier Prozent davon sind Ausländer. Trotzdem ist diese Veranstaltung der Höhepunkt auf Sarrazins Deutschlandsreise. Er tritt nicht in einer Buchhandlung auf, auch nicht in einer Stadthalle. Für die 2500 Besucher ist nur in der Dresdner Messehalle Platz. Fast eineinhalb Stunden redet Sarrazin. Zwischendurch wirkt es nahezu bizarr, wie ruhig diese 2500 Menschen auf ihren Stühlen sitzen und ihm dabei zuhören, wie er aufs Komma genau die Geburtenraten von Akademikerinnen oder den Anteil der Türken in der Sozialhilfe herunterbetet. Allein die Bemerkung, dass er Kopftücher in Schulen verbieten lassen würde, reicht schon für tosenden Applaus.
Nach dem Vortrag dürfen die Besucher Sarrazin wie immer Fragen stellen. Ein gutes halbes Dutzend Mal hört er den Satz: »Herr Sarrazin, vielen Dank für Ihre Ausführungen und den Mut, das öffentlich zu sagen, was wir alle denken.« Kaum einer wagt es, Sarrazin zu widersprechen. Und wenn doch, erntet er Buhrufe und Pfiffe. Eine junge Deutsch-Koreanerin, Musikstudentin, nimmt all ihren Mut zusammen, geht vor den Sarrazin-Anhängern ans Mikrofon und fragt Sarrazin, ob er Goethes Wanderers Nachtlied denn wirklich auswendig könne oder ob er nur damit prahle. »Glauben Sie mir, junge Frau, ich kann’s«, antwortet Sarrazin trocken. Als sie trotzdem beginnt, das Gedicht aufzusagen, weil sie ihm beweisen will, dass auch sie, eine Ausländerin, Interesse an der deutschen Kultur hat, ist nur die erste Zeile zu hören: »Über allen Gipfeln ist Ruh«, der Rest geht in Pfiffen unter. Eingeschüchtert verliert die Studentin den Faden und verhaspelt sich. Das Publikum johlt. Sarrazin sieht in diesem Augenblick nicht besonders glücklich aus. Er hebt leicht die Hand, um das Publikum zu beruhigen, und sagt etwas ins Mikro, aber das ist nicht zu verstehen. Seine Anhänger entgleiten ihm wie Goethes Zauberlehrling die Geister, die er rief. Die Studentin steht immer noch am Mikro, ihre Hand zittert, ihr Mut ist aufgebraucht, weggejohlt. Doch bevor sie gedemütigt aus der Halle rennt, ruft sie noch einen Satz, einen bemerkenswerten Satz: »Sehen Sie denn nicht, was Sie hier anrichten?«
»Ich werde mein Parteibuch mit ins Grab nehmen«
Spätnachts in einem Dresdner Restaurant sieht Sarrazin etwas mitgenommen aus. Er bestreitet alle seine Auftritte mit Disziplin, aber sie kosten Kraft. Reden halten kostet Kraft. Tausende Autogramme schreiben kostet Kraft. Interviews geben kostet Kraft. Sich ständig rechtfertigen kostet Kraft. Er fragt zum ersten Mal den Reporter, wie der die Veranstaltung fand. Er hatte die Menge unter Kontrolle. Bis auf das koreanische Mädchen. »Ja«, sagt er. »Ich weiß auch nicht, was sie von mir wollte.«
Vielleicht hat ihn sein sturer, verbissener Kampf um Anerkennung in den vergangenen Monaten blind gemacht. Vielleicht ist das aber auch nur ein weiterer Charakterzug Sarrazins: Er will, dass die Leute ihn verstehen. Aber gleichzeitig versteht er die Leute nicht, die seine Thesen fürchten, weil er darin fordert, dass sie sich anpassen, ihre eigene Kultur aufgeben sollen. »Wie kann man etwas fürchten, was nur von Vorteil für uns alle sein kann?«, fragt er. Die Frage aber, wie sich ein Türke fühlt, der in der Bevölkerung als unproduktiv, dumm und Hartz-IV-abhängig gilt, stellt er sich nicht. »Gut, ich bin manchmal etwas provokant, aber wer hier lebt und die deutsche Staatsbürgerschaft anstrebt, muss auch die deutschen Sitten und Gebräuche annehmen. Das wollen die Türken und Araber aber nicht alle. Ich gehe manchmal die Straße entlang und sehe Frauen im Hochsommer in dicke Mäntel gehüllt und mit Kopftüchern. Dagegen habe ich schon eine gewisse Aggression entwickelt, das stößt mich ab.«
Ende Februar rutscht Deutschland schafft sich ab nach 21 Wochen in Folge zum ersten Mal von Platz eins der Bestsellerliste. »Das war’s«, sagt Sarrazin, »jetzt geht es nur noch bergab.« Aber er hat noch einmal einen großen Auftritt. Vor der Jury des SPD-Ausschlussverfahrens erringt er Mitte April einen klaren Sieg. Andrea Nahles und die SPD knicken schon ein, bevor das Verfahren überhaupt begonnen hat. Sarrazin triumphiert. »Ich werde mein Parteibuch mit ins Grab nehmen«, sagt er. »Ich bin kein Rassist. Wer das behauptet, ist dumm.«
Die Debatte um seine Thesen rückt in den kommenden Monaten tatsächlich in den Hintergrund, andere Themen bestimmen nun die tagespolitische Agenda: Griechenlandkrise, Arabische Revolution, Eurokrise, Atomausstieg.
Ende Juni in Deggendorf sagt eine Frau nach seinem Vortrag zu ihm: »Lieber Herr Sarrazin, machen Sie weiter, lassen Sie sich ja nicht unterkriegen!« Sarrazin nickt freundlich und dankbar. Aber er weiß, er kann nicht ewig Vorträge zu Deutschland schafft sich ab halten, seine Zahlen und Statistiken sind bereits von neuen aktuellen Zahlen und Statistiken ersetzt worden. Auf die Frage, ob er vielleicht ein neues Buch im Kopf habe oder den nächsten Tabubruch plane, antwortet Sarrazin: »Nein. Ich werde jetzt erst mal mein Golf-Handicap verbessern.« Er lächelt. Zum ersten Mal.
Fotos: Paul Kranzler