Es gibt zwei Sorten von Schauspielern: Die einen brillieren in jeder Rolle, die anderen spielen nur sich selbst. Der Angeklagte Radovan Karadzic gehört zur ersten Sorte. Der Mann mit dem grauen Anzug und der welligen Silbermähne guckt geschäftig. Er klickt ein wenig mit seiner Maus herum, putzt seine Brille. Es ist schon die dritte Brille, seit er vor dem Internationalen Strafgerichtshof steht. Diesmal ist es eine kleine runde, oben mit einer silbernen Fassung, unten randlos. Karadzic, 68, liest viel.
Der frühere Parlamentspräsident* Bosniens und Herzegowinas gilt als der Hauptschuldige für den größten Völkermord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, er soll auch das Massaker von Srebrenica befohlen haben, bei dem 7000 Muslime ermordet wurden.
Vor Gericht aber ist er die Höflichkeit in Person. Wenn er spricht, dann ruhig. Er nennt die Richter »Exzellenzen« – ein Fantasie-Titel. So werden Richter weder an diesem noch an sonst einem Gericht angesprochen. »Exzellenz« werden Botschafter von Staaten genannt. Die korrekte Anrede für den Vorsitzenden eines Gericht wäre Herr Präsident. Aber Präsident, diesen Titel reserviert der einstige Führer der bosnischen Serben im Jugoslawienkrieg noch immer für sich.
Seit er vor 18 Jahren untertauchte, hat Karadzic keine Interviews mehr gegeben. Im Untersuchungsgefängnis haben ihm die Richter den direkten Kontakt zu Journalisten verboten. Unter welchen Umständen schließlich doch ein Interview zustande kam, darf man nicht schreiben.
Im Gespräch mit dem SZ-Magazin gibt sich der einst meistgesuchte Mann der Welt selbstbewusst. Wie es ihm geht in der Untersuchungshaft? »Gut«, sagt Karadzic lachend, »ausgezeichnet.« Er spricht ein geschliffenes, flüssiges Englisch; andere Häftlinge in dem UN-Untersuchungsgefängnis freuen sich, wenn sie gelegentlich den Telefonhörer an ihn weiterreichen dürfen und er für sie dolmetscht.
Im Innenhof des Untersuchungsgefängnisses im Haager Stadtteil Scheveningen sieht ihn das Personal oft beim Nordic Walking. Immer im Kreis. Gleich nach seiner Ankunft hat er sich mit Disziplin daran gemacht, für den Prozessmarathon fit zu werden. Er brauche jetzt eine gute Gesundheit, erklärt Karadzic im Interview Anfang 2013, als unsere Recherche zu dieser Geschichte beginnt. Während der orthodoxen Weihnacht hat er gefastet, auch sonst hält er gern Diät: »Manchmal sagen hier Leute zu mir: Entschuldige, ich habe aus Versehen etwas gegessen, das dir gehört. Und ich sage: Wer mir etwas wegisst, der tut mir in diesem Lebensalter einen Gefallen.«
Banale Worte eines Mannes, der blutige Geschichte geschrieben hat. Seine Gegner sagen, er habe dabei einen langen Plan verfolgt. Schon 1969 hatte der Hobbylyriker Karadzic ein Gedicht über die Vielvölkerstadt Sarajevo geschrieben: »Die Stadt verglüht wie ein Weihrauchklumpen, in diesem Rauch irrt auch unser Bewusstsein. Leere Kleider gleiten durch die Stadt. Der rote Stein stirbt, in die Häuser eingebaut. Die Pest! Stille.« Damals war Karadzic Student. Er war aus einem Bergdorf nach Sarajevo gezogen, in eine Stadt, deren Bewohner auf zugereiste Provinzler herabblickten.
Ein bisschen blumige Poesie sei das gewesen, wehrt Karadzic heute im Untersuchungsgefängnis Scheveningen ab. Nicht etwa die Vision jenes blutigen Kessels, in den seine Truppen die belagerte Stadt Sarajevo zwanzig Jahre später tatsächlich verwandeln sollten. »Ich bin doch nicht Nostradamus!«
Als Karadzic Präsident der bosnischen Serben wurde, verwandelte sich seine Dichtung in Wirklichkeit, und Karadzic schlug denselben apokalyptischen Ton in öffentlichen Reden an: »Denkt nicht, ihr würdet Bosnien und Herzegowina nicht in die Hölle führen und die muslimische Bevölkerung, die sich nicht verteidigen kann, in die mögliche Auslöschung«, rief er im Oktober 1991 vor dem Parlament von Bosnien-Herzegowina. Bei dieser Drohung umklammerte er die Ecken des Rednerpultes, als wolle er es nach seinen Zuhörern werfen.
Als der Zusammenhalt in Jugoslawien Anfang der Neunzigerjahre zerbrach und nationalistische Scharfmacher im Lager der Serben nach Anführern suchten, fiel die Wahl nur durch einige Zufälle auf ihn: einen Psychiater, der sich bei Tag auf Gruppentherapien mit depressiven Patienten spezialisierte und bei Nacht Gedichte über serbisches Heldentum schrieb.
Der montenegrinische Literaturwissenschaftler Marko Veskovic nannte Karadzic eine gescheiterte Existenz: »Er wollte Schriftsteller werden und wurde als Poet vom Schriftstellerverband nie ernst genommen.«
Radovan Karadzic inszenierte sich in seinem neuen Amt als Dichterfürst, »als den Helden eines epischen Gedichts, das eine entfernte, zukünftige Generation einst singen würde«, wie es der bosnische Schriftsteller Aleksandar Hemon ausdrückt.
Die Gelegenheit, sich in Szene zu setzen, nutzt Karadzic auch seit seinem ersten Auftritt vor bald fünf Jahren vor dem UNO-Tribunal. Seinen Prozess hat man in den größten der drei Gerichtssäle des Haager Tribunals gelegt. Hier befragen ihn die Richter zu der Blutspur, die serbische Truppen durch Bosnien zogen, zu Beginn der Neunzigerjahre. Zu den Truppen, die fast vier Jahre lang die Stadt Sarajevo einkesselten und beschossen. Zu den serbischen Kampfverbänden, die an einem Sommertag eine kleine Ortschaft am Waldrand überfielen, Srebrenica, und dort etwa 7000 muslimische Jungen und Männer zusammentrieben, fesselten und erschossen. Karadzic war der politische Führer, zu dem die Mörder aufsahen.
Jetzt, nach mehr als vier Jahren Prozess, ist die Aufführung zu Ende, die Anklage seit dem 1. Mai abgeschlossen. Was Radovan Karadzic zu sagen hatte, wenn im Haager Gerichtssaal sein Mikrofon rot aufleuchtete, hat man hier schon oft gehört: Es ist die Erzählung einer serbischen Nation, die sich angeblich wehren musste gegen Separatisten und muslimische Terroristen, die aus dem Westen und besonders aus Deutschland ermuntert worden seien.
Karadzic ist dabei aber derjenige Angeklagte, der die Ankläger nervös macht. Warlords, Haudegen, breitschultrige Politiker kennt man in Den Haag zur Genüge: Der serbische Ex-Präsident Slobodan Milosevic, der 2006 in Haft starb, ließ im Gerichtssaal den Bauch raushängen, behandelte Zeugen von oben herab. Er blieb sich treu, wollte selbst die Spielregeln bestimmen. Die Ankläger konnten gelassen zusehen: Milosevic war an fachgerechter Strafverteidigung so wenig interessiert, dass er sich von Monat zu Monat tiefer eingrub in seine strafrechtliche Grube. Wäre er 2006 nicht plötzlich in seiner Zelle gestorben, einem Schuldspruch hätte nichts im Weg gestanden.
Oder Ratko Mladic, der pöbelnde Ex-General mit der Zahnprothese: Der gibt noch immer den ewigen Haudegen, wird gern derb und obszön. Das Tribunal, polterte der 71-Jährige, sei ein »satanisches Gericht«. So macht Mladic es seit seinem ersten Tag hier in Den Haag. Damals hatte er die Mütter von Srebrenica, die im Publikum saßen, mit breitem Grinsen und eindeutiger Geste begrüßt: Daumen an die Kehle, langsame Bewegung von links nach rechts. Im Gerichtssaal ist sein größter Erfolg, schon einmal hinausgeworfen worden zu sein.
* In einer früheren Version dieses Artikels stand irrtümlich "Präsident" statt "Parlamentspräsident". Wir bedauern den Fehler.
Karadzic ist ein Angeklagter, der die Ankläger nervös macht.
Ein Bosnier schreitet an den Särgen von Opfern des Srebrenica-Massakers entlang. Bild: Reuters
An einem Dienstag im Januar soll Mladic als Zeuge im Mammut-Prozess gegen seinen ehemaligen Chef Karadzic aussagen. Aber er hat seine Zähne in der Zelle liegen gelassen. »Sie wollen aussagen, wenn Ihre Zähne hier ankommen?«, fragt Richter O-Gon Kwon. »Jaja«, grummelt Mladic. Als eine Wache das Gebiss vom Gefängnis zwanzig Minuten später in den Gerichtssaal eskortiert hat, hat Mladic es sich wieder anders überlegt.
Statt Fragen zu beantworten, beschimpft er das Gericht, bis Sicherheitsleute in blauen UN-Hemden den pöbelnden Ex-General wie einen betrunkenen Kneipengast aus dem Saal hinausschieben. Über das Gesicht von Richter O-Gon Kwon, dessen Miene sonst einer Sphinx gleicht, huscht ein gequälten Lächeln.
Die Grundidee der internationalen Strafjustiz ist es, selbstherrliche Kriegsherren, die sich als Großdarsteller der Historie verstehen, von ihrem selbst gebauten Sockel zu stoßen, sie auf das Maß von gewöhnlichen Angeklagten zu stutzen.
Aber die Wahrheit lautet: Das Tribunal in Den Haag ist selbst eine Bühne. Allein dieser Saal! Die Zuschauer sitzen im Halbdunkeln, der Boden aus Marmor, alle Blicke richten sich nach vorn auf einen hell erleuchteten, mit Teppich ausgelegten Raum, der aussieht, als habe man ihn in der Hälfte durchgeschnitten und eine Glasscheibe drangepresst.
Richter, Ankläger und Verteidiger sitzen dahinter zusammen wie in einem Kammerspiel. In den Minuten vor Verhandlungsbeginn ist die Glasscheibe zum Zuschauerraum mit einer Papierjalousie verdeckt. Während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen, zeichnen sich hinter der Leinwand Silhouetten ab. Ein Schattenspiel.
Dann erst hebt sich der Vorhang, die Richter kommen herein. Von nun an wird jeder Moment aus mehreren Winkeln gefilmt: für den Internet-Livestream. Zu Hause auf dem Balkan sehen sich das Tausende an, besondere Auftritte gelangen am nächsten Tag in die Boulevardblätter. Die Zahnprothesen-Szene an diesem Vormittag schafft das auch.
Das Drama, das auf dieser kleinen Bühne aufgeführt wird, handelt vom Krieg und seinen Verbrechen. Es geht um tragische Einzelschicksale und gesellschaftliche Konflikte. Täter und Opfer treten auf. Viele der Überlebenden können hier zum ersten Mal ausführlich von ihren schrecklichen Erlebnissen im jugoslawischen Bürgerkrieg erzählen, der vor zwanzig Jahren den Balkan verwüstete. Und die ehemaligen Kriegstreiber, die es gewohnt waren, Befehle zu erteilen, müssen Rede und Antwort stehen. Das bedeutet aber auch: Sie haben wieder das Wort.
Einer, der in diesem Stück vielen die Schau stiehlt mit seiner eigenen Inszenierung, ist nicht der pöbelnde Ex-General Mladic. Sondern der Mann, den man im Saal neben ihm leicht übersehen könnte, weil er das Treiben zunächst unbewegt mit ansieht: der Hauptangeklagte Radovan Karadzic. Wenn man ihn im Gerichtssaal sieht, gegenüber Menschen, deren Angehörige gefoltert und ermordet wurden, dann wirkt er konzentriert, zielgerichtet. So fleißig hat sich bislang noch keiner auf das juristische Spiel mit dem verhassten Tribunal eingelassen.
Als das Schlachten vorbei war, waren mehr als 100 000 Menschen tot, mehr als zwei Millionen vertrieben und Karadzic abgetaucht. Als Wunderheiler »Dr. Dragan Dabic« schlüpfte er in die rechtsradikale serbische Esoterik-Szene Belgrads, mit Rauschebart und langen Haaren, die er zu einem grauen Dutt zusammenband.
»Ich habe mich nicht versteckt, ich war vor aller Augen. Niemand hat mich erkannt. Ich habe einfach 22 Kilo abgenommen und mein Aussehen geändert«, sagt Karadzic im SZ-Magazin-Interview und kichert. Mehr als ein Jahrzehnt lang lebte er so, wohl auch unter der schützenden Hand des serbischen Geheimdienstes, verborgen vor den Fahndern der internationalen Justiz. Bis ihn die heimischen Sicherheitskräfte fallen ließen und ihn im Sommer 2008 in einem Nahverkehrsbus verhafteten.
Hinter Gittern empfängt Karadzic fast täglich sein Juristenteam. Sofort nach seiner Ankunft in Den Haag hat er es gecastet: Die Besten der Besten sollten sich bei ihm vorstellen, bei einem Glas Orangensaft, das Radovan Karadzic einschenkte. Jeden einzelnen Bewerber fragte er, wie schnell er lesen könne. Er selbst schaffe 1000 Seiten am Tag; er erwarte natürlich von seinen Mitarbeitern, dass sie da mithalten.
Karadzic hat Strafprozessrecht gepaukt. Nachts liest er in seiner Zelle. Mehr als 1,5 Millionen Seiten umfassen seine Prozessakten. Wie gut er sich auskennt, unterstreicht er gern im persönlichen Gespräch, in das er beiläufig juristische Fachbegriffe einstreut.
Den Auftrag, sein Juristenteam anzuführen, hat er in Den Haag einem amerikanischen Anwalt gegeben, Peter Robinson – keinem Serben und auch keinem politischen Sympathisanten, sondern einem Profi. Einem weltgewandten Liberalen, der ein Gummiband mit der Aufschrift »Genocide: Never again« am Handgelenk trägt und in Den Haag allseits ernstgenommen wird. Karadzic hat ihn beauftragt – nicht ohne klarzumachen, dass er selbst, Karadzic, den »Kopf der Verteidigung« bilden und jederzeit im Gerichtssaal das Wort einfordern werde.
Die beiden Staatsanwälte, die Karadzic anklagen, stammen aus den beiden Ländern, die Serbiens Nationalisten als ihre wichtigsten Gegner betrachteten: Alan Tieger ist Amerikaner, Hildegard Uertz-Retzlaff Deutsche. Andere Angeklagte hätten diesen Umstand ausgeschlachtet, um das Tribunal anzuprangern: Wie objektiv können Juristen sein, die von den militärischen Siegern entliehen sind?
Aber Karadzic verzichtet auf Tiraden gegen das Gericht, er sabotiert das Verfahren nicht, er versammelt fähige Juristen um sich und hält sich nicht lange mit der Frage auf, ob sie aus Nato-Ländern kommen. Sein Team beschäftigt auch stets ein paar Praktikanten; zum Abschied schenkt er jedem ein signiertes Foto mit persönlicher Widmung: »Thank you for your great work. Radovan Karadzic.« Eine Art Autogrammkarte. Karadzic gehört zu jener Sorte von Schauspielern, die in jede Rolle schlüpfen können wie in eine zweite Haut. Hauptsache, er spielt die Hauptrolle.
Er sucht die Anerkennung seines neuen Umfeldes. Man kann das an seinen auf bizarre Weise formvollendeten Auftritten im Gerichtssaal studieren. Einen schottischen Richter, Lord Iain Bonomy, spricht er brav mit »Eure Lordschaft« an. Einmal versuchte er, ihn mit Glückwünschen zum Sankt-Georgs-Tag zu gewinnen – und trat gleich in ein Fettnäpfchen. Bonomy korrigierte den Serben trocken, er verwechsle da wohl Schotten und Engländer.
Als Karadzic den Zeugen im Verhör als Lügner bezeichnet, reißt dieser vor dem Richter sein Hemd auf und entblößt die Narbe.
Radovan Karadzic vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Bild: AP
Karadzic verzehrt sich danach, ernstgenommen zu werden. So war es in seiner Zeit als Politiker, so ist es nun in Den Haag. Als ebenbürtiger Gegner der Juristen möchte er gelten, nicht als Lachnummer wie Mladic.
Spricht man Karadzic auf seine Leidenschaft für Poesie an, gerät er ins Prahlen: »Alle meine Bücher haben Preise bekommen!« Er habe, so erzählt er, noch im Untergrund kleine Prosabändchen und Theaterstücke verfasst, darunter eine Komödie über die UNO und ihren Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina. »Und 2004 schließlich habe ich das beste meiner Bücher veröffentlicht: Die Wunderhafte Chronik der Nacht!«
Freilich: Als meistgesuchter Kriegsverbrecher der Welt hat man einen beschränkten literarischen Wirkungskreis: »Obwohl es das beste Buch in der serbischen Sprache war«, klagt Karadzic, »haben sie es nicht gewagt, ihm einen Preis zu geben.«
Während seiner Zeit im Untergrund als Wunderheiler Dr. Dabic betrieb Karadzic eine Webseite, über die er Pendel und Potenzmittel anpries. Auf seine medizinischen Studien in dieser Zeit will er nichts kommen lassen. Als Psychiater und Mediziner, bekennt er in der Haftanstalt von Scheveningen, sei es ihm immer um die Vereinigung des gesamten Menschheitswissens gegangen: »Die Menschheit ist einzigartig, aber die Erfahrungen sind unterschiedlich in Ost und West, Süd und Nord.«
Sobald aber die Sprache von medizinischer Weisheit auf die Kenntnis von Kriegsverbrechen kommt, gibt sich Karadzic unwissend: »Ich habe viele Behörden gefragt, ob in Srebrenica Zivilisten getötet wurden, und mir wurde stets versichert, dass keine Zivilisten getötet worden sind.«
Mit der Art und Weise, wie Karadzic sich im Gerichtssaal verteidigt, hat er durchaus bessere Chancen, als viele anfangs dachten. Der Angeklagte Karadzic nutzt jede Chance, die ihm die Rechtsprechung bietet – und das ohne seinen Anwälten ins Wort zu fallen, sich zu verplappern oder Zeit auf juristisch wertlose Nebenschauplätze zu verschwenden. Jetzt, da der Vorhang gefallen ist und sich die Richter zurückgezogen haben, um für ein paar Monate über das Urteil zu beraten, rechnet zwar niemand mit einem Freispruch. Aber die Liste der Anklagepunkte ist lang – und schon eine Reduzierung dieser Punkte wäre für Karadzic ein enormer Propaganda-Erfolg.
Es nutzt ihm dabei, dass das Tribunal gerade an Kraft verliert: Mitte 2017 wird ihm der Atem ausgehen. Der UN-Sicherheitsrat hat nach mehr als zwanzig Jahren die Geduld verloren. Das Mandat des Tribunals ist offiziell ausgelaufen, das Geld tröpfelt nur noch. Viele der besten Juristen haben das Tribunal bereits verlassen, jeden Monat werden es mehr. Für die wenigen verbleibenden wird es schwieriger, den Überblick zu behalten. So häufen sich handwerkliche Fehler – weil »die Qualitätskontrolle leidet«, wie es einer aus der Staatsanwaltschaft ausdrückt. Auflösungserscheinungen.
Zugleich ist auch viel die Rede von inneren Kämpfen und Intrigen. Die Disziplin schwindet. In den letzten zwölf Monaten haben sich die Richter des Tribunals zerstritten. Angefangen hatte es mit einem geharnischten Brief eines dänischen Richters: Darin warf dieser dem amerikanischen Gerichtspräsidenten allen Ernstes vor, ein israelisch-amerikanischer Agent zu sein.
Der sachliche Kern dieses Streits: Das Tribunal ist bei den Beweisketten zurückhaltender geworden, wesentlich selbstkritischer als früher; altersmilde, sagen Spötter. Lange verfolgten die Haager Richter eine harte Linie, es genügte oft schon für einen Schuldspruch, wenn ein Befehlshaber oder Politiker Truppen ins Feld geschickt und ihre Verbrechen geduldet hatte.
Vergangenes Jahr haben die Richter des Tribunals mehrheitlich den Rückwärtsgang eingelegt: Das reicht für einen Schuldspruch nun nicht mehr aus. Er muss auch den Befehl zu den Verbrechen erteilt haben. Das ist oft sehr schwer nachzuweisen, weil kaum jemand so leichtsinnig ist, dies schriftlich zu tun.
In den letzten beiden Jahren sind aufgrund dieser neuen Rechtsprechung bereits vier hohe Militärs freigesprochen worden. Viele Juristen am Tribunal sehen das mit Entsetzen, ein hochrangiger spricht von einem »Skandal«, der die Bilanz des Gerichts nach zwanzig Jahren trübt. Ein anderer sagt: Für viele gehe es nun um ihr »Lebenswerk«, das sie gerade vor die Hunde gehen sehen. Längst ist offensichtlich: Der Gerichtspräsident Theodor Meron hat seinen Laden nicht mehr im Griff.
Man kann neuerdings offene Worte über das Klima in den Richterzimmern hören, von einer »Diktatur« erzählt da ein Mitarbeiter, der einen täglichen Einblick hat, und von der »Angst« einiger Richter davor, dass der zielbewusste Gerichtspräsident sie nicht mehr einsetzen werde, wenn sie nicht in seinem Sinne – also milde – urteilten. Man muss solche Vorwürfe nicht für bare Münze nehmen. Aber klar ist: Die Moral ist am Boden.
Für Radovan Karadzic könnte der Augenblick kaum günstiger sein. Er hat niemanden eigenhändig erschossen, er war auch nicht selbst in Srebrenica anwesend. Und dass er ein guter Anwalt geworden ist, sagen – halb anerkennend – sogar Anwälte, die zu den besten in Den Haag gehören. Selbst unter den Anklägern kann man solche Sätze hören. Immer wieder musste der Vorsitzende Richter den Angeklagten Karadzic bei dessen Kreuzverhören ermahnen, endlich auf den Punkt zu kommen. Doch dessen Verzögerungsstrategie hatte das Gericht wenig entgegenzusetzen.
Und so nimmt der Prozess des Dr. K. eine ungeahnte Wendung. Und entwickelt sich mehr und mehr zu der Geschichte eines Rollentauschs. So weit, dass am Ende der Angeklagte versucht, sich selbst zum Ermittler aufzuschwingen.
Dem Zeugen C., der von der Ermordung seiner Frau beim Markale-Massaker in Sarajevo erzählte und dem Blut, das durch die Straßen strömte, kondoliert Karadzic ungerührt und verspricht, die Verantwortlichen zu finden – als sei er selbst der Staatsanwalt.
Ein anderer Zeuge berichtet von Albträumen der vergangenen Nacht. Die habe er immer wieder, seit serbische Milizen ihm vor zwanzig Jahren im Krieg eine Pistole in den Mund steckten und ihn zu erschießen drohten. Anschließend hätten sie zwanzig Mitbürgern die Kehlen durchgeschnitten. Er kam davon, sie schlugen ihm die Zähne ein und ritzten ein Kreuz in seine Brust.
Als Karadzic den Zeugen im Kreuzverhör als Lügner bezeichnet, reißt dieser vor den Richtern sein Hemd auf und entblößt eine Narbe: »Euer Ehren, ich habe diese Narbe von Simo Simetic bekommen, hier, genau hier, Sie können die Spur des Messers sehen, seines Messers, und hier ist das Kreuz, das sie in meine Haut geschnitten haben.«
Karadzic lächelt kurz spöttisch und murmelt: »Nett.« Dann führt er die Vernehmung weiter. Die Richter lassen ihn machen.
Illustration: Paul X. Johnson