Mit ihrem Kopftuch sieht sie aus wie andere Frauen im Flüchtlingslager Dheisheh in der Nähe Bethlehems. Nur ihre hellen Augenbrauen verraten, dass Irina Polishchuk-Sarahne keine Palästinenserin ist. Sie wurde in der Ukraine geboren und wanderte Mitte der 90er-Jahre illegal in Israel ein, um sich in Tel Aviv als Prostituierte durchzuschlagen. Mittlerweile ist sie eine Art Heldin geworden. Neun Jahre lang saß sie in israelischer Haft, nachdem sie ihrem Ehemann geholfen hatte, Selbstmordattentäter zu ihren Anschlagszielen zu chauffieren. Seit Ende Oktober ist sie wieder frei. Irina Polishchuk-Sarahne gehört zu den Häftlingen, die Israel vorzeitig entlassen hat, um Gilad Schalit freizubekommen, jenen Soldaten, der im Juni 2006 in den Gazastreifen verschleppt worden war. Mit ihr fielen drei weitere Palästinenser aus Dheisheh unter die Amnestie, doch diese durften nicht ins Westjordanland zurückkehren, sondern wurden nach Gaza abgeschoben.
Dheisheh ist ein ganz spezieller Ort. Seit dem Sechstagekrieg von 1967 kamen bereits 61 Bewohner der anderthalb Quadratkilometer großen Flüchtlingssiedlung bei Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee ums Leben. 18 Selbstmordattentäter sind von hier aus nach Israel aufgebrochen, und 35 Bewohner sitzen mit einer Strafe von mindestens einmal lebenslänglich in israelischer Haft. In Wahrheit ist es fraglich, ob es hier einen einzigen Mann gibt, der nicht Bekanntschaft mit den Gefängnissen des Feindes gemacht hat.
Nun wird Polishchuk-Sarahnes Rückkehr nach Dheisheh als Triumph zelebriert. Die Bewohner empfangen sie mit einer Parade, Freiwillige verteilen Süßigkeiten, die glückliche Familie empfängt in ihrem Haus Gratulanten. Zur Feier des Tages ist ihre Mutter aus der Ukraine angereist, nun sitzt sie mit einem Palästinenserschal, der Widerstand gegen die Israelis symbolisiert, neben ihrer Tochter. Zu ihrer anderen Seite: Irinas Schwiegermutter, eine Frau, die 1948 aus ihrem Dorf fliehen musste.
Unter jenen 477 palästinensischen Häftlingen, die in der ersten Phase des Gefangenenaustauschs von Israel entlassen wurden (im Dezember sollen noch einmal 550 folgen), hat Irina Polishchuk-Sarahne die wohl ungewöhnlichste Lebensgeschichte. 1977 wurde sie in einem kleinen ukrainischen Dorf nahe der Hafenstadt Mykolajiw geboren, ihre Kindheit war von Armut geprägt. Mitte der 90er-Jahre verließ sie ihre Heimat und ging, obwohl sie nicht Jüdin ist, nach Israel. Dort begann sie in einem Tel Aviver Bordell zu arbeiten.
Einer ihrer Stammkunden wurde Ibrahim Sarahne. Er entstammte einer Familie aus der Gegend von Bet Schemesch, die nach Jerusalem geflohen war. Als Israel 1967 den Ostteil der Stadt okkupierte, gehörte die Familie zu jenen Palästinensern, die einen blauen Personalausweis bekamen und sich frei bewegen durften. Später zog die Familie nach Dheisheh. Sarahne machte eine Karriere als kleiner Autodieb, heiratete eine Palästinenserin und bekam mit ihr fünf Kinder, was ihn nicht davon abhielt, durch die Puffs von Tel Aviv zu ziehen. Irgendwann begegnete er dabei auch Irina.
Die beiden verliebten sich ineinander – so sehr, dass er ihr in die Ukraine nachreiste, als sie beschlossen hatte, in ihre Heimat zurückzukehren, und sie dazu überredete, es mit ihm in Israel zu versuchen. Nach dem Ausbruch der Zweiten Intifada Ende 2000 zog das Paar ins Haus von Ibrahims Eltern in Dheisheh und bekam eine Tochter. Im Flüchtlingslager war Irina von Anfang an eine Außenseiterin, schon weil sie ihre Haare offen trug.
Für die Aufständischen war Ibrahim Sarahne ein wertvoller Mann. Er besaß einen Passierschein, er kannte sich in Jerusalem aus, und er war ein hervorragender Autofahrer. So rekrutierte ihn ein Verwandter, Mahmoud Sarahne, für eine Kampfzelle, die von Muhammad Mughrabi geleitet wurde. Am 29. März 2002 fuhr Ibrahim die 18-jährige (nach anderen Quellen erst 16-jährige) Selbstmordattentäterin Ayat al-Akhras vom Flüchtlingscamp zu einem Supermarkt im Jersualemer Viertel Kiryat Yovel. Ihre Bombe tötete den 55-jährigen Wachmann Haim Smadar und die 17-jährige Rachel Levy.
Nur zwei Tage später lotste Sarahne Ghami Shahwani, einen weiteren Selbstmordattentäter, nach Jerusalem. Dieses Mal hatte er zusätzliche Vorkehrungen getroffen. Er saß zusammen mit seiner Frau und dem Baby im ersten Auto, der Attentäter befand sich in einem zweiten Fahrzeug, das ihnen folgte und von Ibrahims Bruder Khalil gelenkt wurde. Als sie an einem Kontrollpunkt vor Jerusalem aufgehalten wurden, zündete Shahwani seine Bombe und tötete den 19-jährigen Grenzpolizisten Tomer Mordechai. Ibrahim und Irina flohen vom Tatort.
Im Mai 2002, einige Wochen nachdem die Operation »Defensive Shield« der israelischen Armee gegen die Intifada begonnen hatte, plante eine Zelle der Tanzim-Milizen, die von Dheisheh aus operierte, einen effektiveren Terroranschlag. Diesmal sollten gleich zwei Selbstmordattentäter nach Israel eingeschleust werden. Der erste, ein 16-jähriger Junge namens Issa Badir, sollte sich in einem Park im israelischen Rischon LeZion in die Luft sprengen. Sobald die Rettungsmannschaften am Tatort eingetroffen wären, um sich um die Verwundeten zu kümmern, sollte es eine zweite Explosion geben – ausgelöst von einer jungen Frau namens Arin Ahmed, die sich als Schwangere getarnt hatte. Doch auf der Fahrt kamen Ahmed Bedenken. Irina Polishchuk-Sarahne beschimpfte sie als Feigling und redete ihr zu, sie werde nie wieder eine so gute Chance bekommen: »Siehst du denn nicht, wie viele Juden hier sind? Du weißt doch, was der Koran über das Paradies sagt?«
Irina Polishchuk-Sahrane am 20. Oktober in Bethlehem, zwei Tage nachdem sie aus israelischer Haft freikam. Rechts ihre Mutter, links ihre Tochter.
Schließlich jagte sich nur Badir in die Luft und tötete Garri Tausniaski, einen krebskranken 65-jährigen Mann, und den 16-jährigen Elmar Deschabrijelow, der sich mit Freunden im Park verabredet hatte. Am folgenden Tag wurden Ibrahim Sarahne und seine Frau am Eingang eines Einkaufszentrums verhaftet.
In den Verhören behauptete Irina Polishchuk-Sarahne zunächst, sie heiße Marina Pinsky und sei eine Jüdin russischer Herkunft. Tatsächlich existierte eine Frau dieses Namens; sie war mit einem Cousin Ibrahims verheiratet. So kam es, dass der Inlandsgeheimdienst Schin Bet die beunruhigende Nachricht verbreitete, eine Jüdin habe sich an Terroranschlägen gegen israelische Staatsbürger beteiligt. Der Irrtum wurde erst nach einer Woche aufgeklärt, nachdem die echte Marina Pinsky sich gemeldet hatte. Irina Polishchuk-Sarahne gab vor, Arabisch nicht zu verstehen und deswegen keine Ahnung vom Zweck der Fahrten ihres Mannes gehabt zu haben. Das Militärgericht glaubte ihrer Version und verurteilte sie zu dreieinhalb Jahren Haft. In der Berufung aber wurde dieses Urteil wieder kassiert: Polishchuk-Sarahne, hieß es nun, habe sich als Mitwisserin an den Terroranschlägen beteiligt.
Sie wurde zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt, Ibrahim, ihr Mann, bekam sechsmal lebenslänglich plus 45 Jahre.
Im Gefängnis wurde Polishchuk, die schon früher zum Islam konvertiert war, zu einer regelrechten Frömmlerin, begann, sich zu verschleiern, und brachte ihren Mitgefangenen im Austausch gegen Arabischunterricht Russisch bei. Vor zwei Jahren unterbreiteten ihr die israelischen Behörden das Angebot, gemeinsam mit ihrer Tochter in die Ukraine zurückzukehren. Sie lehnte ab, weil sie das Mädchen nicht aus der Familie ihres Mannes reißen wollte. Nach der Entlassung weigerte sich Irina Polishchuk-Sarahne, mit israelischen Journalisten zu reden, sie wolle nichts sagen, was dem Schin Bet missfallen und sie ins Gefängnis zurückbringen könne. So wird sie bis auf Weiteres die ukrainische Einzelgängerin im Flüchtlingslager Dheisheh bleiben.
Erschienen in Haaretz Daily Newspaper, 2011, aus dem Englischen von Peter Praschl.
Foto: Corbis; Illustration: Damentennis