Schlägerei im ukrainischen Parlament. Ähnliche Bilder aus dem Bundestag wären undenkbar. Nicht nur wegen der Frisuren.
SZ-Magazin: Frau Deitelhoff, haben Sie Mitleid mit den Grünen und der Linken?
Nicole Deitelhoff: Ganz und gar nicht. Warum sollte ich?
Weil diese Parteien gegenüber der Großen Koalition eine der schwächsten Oppositionen bilden werden, die es je im Bundestag gegeben hat.
Ich finde, das Gerede um die kleine Opposition geht am Kern der Sache vorbei: Opposition braucht keinen Minderheitenschutz. Die Parteien, die nicht regieren, haben eine klare Aufgabe im Parlament: Sie sollen eine Alternative zur Regierung sein und uns Bürgern zeigen, dass Politik auch anders aussehen könnte. Dass wir zum Beispiel Edward Snowden Asyl gewähren können. Wenn wir nur wollen.
Das fordert mittlerweile sogar Udo Lindenberg.
Opposition muss nicht im Parlament sitzen. Sie ist ein Mechanismus der Demokratie, der zeigt: Wir sind nicht an der Macht – aber wir könnten jederzeit an die Macht kommen. Und wir schauen genau, was die Mächtigen treiben.
Und dabei ist egal, wie viele Sitze eine Opposition im Bundestag hat?
Auch eine kleine Opposition kann viel bewegen. Zum Beispiel die Grünen: Die sind aus Aktivistengruppen hervorgegangen, waren nicht ständig in Parlamenten vertreten und haben trotzdem durch ihre Proteste so viel Lärm verursacht, dass sich das System geändert hat: An Umweltschutz kommt keiner mehr vorbei.
Trotzdem müssen die Grünen jetzt zuschauen, wie andere Parteien grüne Themen wie den Atomausstieg umsetzen. Wie bitter ist das für die Partei?
Für die Grünen mag es bitter sein, für das System ist es gut. Es ist ein Zeichen für lebendige Demokratie. Wenn sich ein System öffnen kann und Ideen der Opposition aufgreift statt sie nur zu bekämpfen, ist das etwas sehr Wertvolles. Das wäre in autoritären Staaten undenkbar.
Ist Opposition nur Ideengeber für die Mächtigen?
Das ist natürlich ein Dilemma, man kämpft für Ideen, sie werden von der Regierung umgesetzt und die Urheber der Idee bleiben vor der Tür. Aber: Es gibt immer neue Themen, die eine Opposition aufgreifen kann. Man könnte sagen: Es gibt immer neue Opposition, denn jedes Thema, das sich durchgesetzt hat, wird neuen Widerspruch erzeugen. Das ist ein wesentliches Kennzeichen der Demokratie, dass Regieren diesen Dauerwiderspruch erzeugt, aushält und aufnehmen kann. In gewisser Weise könnte man also sagen, die Regierung sollte der Opposition dankbar sein für ihre Impulse.
Das klingt jetzt arg harmonisch.
Natürlich wollen die Mächtigen die Opposition auch klein halten. Das ist Teil des politischen Wettkampfs.
Wie machen sie das?
Das einfachste Mittel, vor allem gegen Oppositionsbewegungen, die sich nicht im Parlament institutionalisiert haben, ist das Lächerlichmachen ihrer Ziele. So kommen Begriffe wie Wutbürger zustande. Ein ekelhaftes Wort.
Was stört Sie an dem Begriff?
Er zwingt die Opposition in eine alberne Rolle: als bürgerliche Unzufriedene, die immer nur dagegen sind – aus Angst, dass in ihrem Garten die Blümchen abgeschnitten werden.
Ist da nicht was Wahres dran?
Sicher. Aber was soll daran schlecht sein? Wenn sogenannte Wutbürger nicht ernst genommen werden, heißt das im Umkehrschluss: Wer echte Opposition betreiben will, kann nie an eigenen Interessen orientiert sein, sondern muss immer das große Ganze im Blick haben. Und darf nicht emotional sein, sondern muss rational alles gegeneinander abwägen. Und schon am Anfang wissen, wohin der Protest führen soll. Nur dann bin ich kein Wutbürger, sondern ernsthaft an einer Sache interessiert. Das ist ja wohl Blödsinn. Wer so denkt, verkennt die Leistung unserer demokratischen Systeme.
Warum?
Weil man einer Illusion erliegt: Heute geht es bei Politik um einen möglichst breiten Konsens. Man holt alle Beteiligten an einen Tisch und hört alle Meinungen. Und am Ende steht ein rationales Ergebnis, ein Konsens.
Was soll daran schlecht sein?
So funktioniert Politik nicht.
Warum nicht?
Weil es Opposition nur als Störung begreift, die sich irgendwie besänftigen lässt. Und wenn das nicht klappt, gibt es eben ein Mediationsverfahren mit einem Altpolitiker mit viel Renommee – so werden diese wütenden Bürger schon zufriedenzustellen sein. Das ist fatal, weil es suggeriert, dass Streit in der Politik nichts zu suchen hat. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Politik braucht Streit.
Was ist denn so gut an Streit?
Streit ist ehrlich. Denn es gibt nun mal unvereinbare Interessen. Wenn ein Flughafen ausgebaut wird, haben die Anwohner ein legitimes Interesse an Lärmschutz, die Wirtschaft das Interesse an Wachstum. Beides berechtigt. Aber unvereinbar.
Wie findet man da eine friedliche Lösung?
Indem das Parlament sich traut, eine Entscheidung zu treffen, die nicht jedem passt. Es ist unbequem, es widerspricht dem Wunsch nach Harmonie, aber es geht nicht anders.
»Das erinnert an die Sechzigerjahre, als der Staat das »Schweinesystem« war.«
Nicole Deitelhoff
Oppositionsforscherin
Sie sucht Streit auf der ganzen Welt - um ihn dann zu erforschen. Ihre Gesprächspartner, allesamt Oppositionelle, findet die Politikwissenschaftlerin in Parlamenten, Protestcamps und Gefängnissen. Seit 2009 leitet sie eine Forschungsgruppe an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und hat eine Professur an der Uni Frankfurt.
Und die Opposition ist automatisch gegen die Entscheidung?
Nicht unbedingt. Aber sie kann zeigen, welche andere Lösung möglich gewesen wäre. Wenn das genug Menschen überzeugt, kommt die Opposition vielleicht bei der nächsten Wahl an die Macht.
Muss Opposition überhaupt an die Macht kommen wollen?
Nein, nicht unbedingt. Das hängt davon ab, wie Opposition zum politischen System steht. Ob sie es als legitim anerkennt, aber mit konkreten Politiken nicht einverstanden ist – oder das System als solches ablehnt. So hat Opposition zwei Möglichkeiten: Sie kann den Weg durch die Institutionen einschlagen, also versuchen, das System von innen zu verändern. Oder sie verweigert sich komplett – was in Radikalisierung umschlagen kann.
Sie erforschen Opposition auf der ganzen Welt – wie arbeiten Systemkritiker in Ländern, in denen Widerstand unterdrückt wird?
Dort geht es vor allem um Strukturen, die eine Verfolgung und Zerschlagung erschweren. Damit eine Gruppe noch handeln kann, wenn ihre Anführer verhaftet werden. Das sieht man in China, Russland oder Ländern des Maghreb, da sind Gruppen loser organisiert, damit sie sich immer neu zusammenschließen können. Außerdem wird dort mit »Hit and Run«-Taktiken gekämpft: Aktion im Geheimen planen, schnell zuschlagen und unbemerkt verschwinden.
Das erinnert an Guerilla.
Oft ist es viel harmloser: Da werden dann Plüschtiere mit dem Slogan »Freiheit« an Kriegerdenkmälern aufgestellt.
Was soll das bringen?
Für uns wirkt das wie ein Streich, aber in Ländern ohne Meinungsfreiheit kann es der Bevölkerung zeigen: Widerstand ist möglich. Da ist Opposition auf der ganzen Welt ähnlich.
Gibt es noch mehr Gemeinsamkeiten zwischen Oppositionsgruppen?
Gerade bei gegenwärtigen Protestbewegungen erleben wir eine tiefe Abneigung gegen das politische System. Das sieht man auch in demokratischen Ländern immer öfter. Bei einigen Gruppen gilt schon der Händedruck mit einem Politiker als Tabu, weil er einen total verkommenen Staat repräsentiert. Das ist ein Grund zur Besorgnis.
Welche Gruppen sind das?
Einige kommen aus der globalisierungskritischen Bewegung von Occupy, die gegen die Macht der Banken demonstriert. Auch radikale Umweltschützer oder die Netzaktivisten von Anonymous wollen mit dem Staat oft gar nichts mehr zu tun haben.
Ist das nicht ein bisschen naiv?
Schon möglich. Aber man darf sie nicht unterschätzen. Die haben eine komplett andere Vorstellung von Politik. Darum fordern sie den radikalen Bruch mit den Institutionen. Das erinnert an die Sechzigerjahre, als der Staat das »Schweinesystem« war.
Damals ging es darum, dass viele alte Nazis noch in Machtpositionen saßen. Wogegen richtet sich heute die Wut?
Gegen ein System, das als korrupt gilt. Hinter dem Banken, Lobbyisten und Beratungsfirmen stehen, die Gesetze mitschreiben und einen Überwachungsstaat aufbauen wollen. Die Ablehnung ist enorm.
Wann wird aus politischer Opposition gewaltsamer Widerstand?
Meist kommen zwei Dinge zusammen: Wenn Oppositionelle das Gefühl haben, dass ihnen keiner zuhört. Und wenn sie sich systematisch unterdrückt fühlen. Da entsteht eine Stimmung von »Wir gegen den Rest der Welt«, in der sich ein Teil der Opposition radikalisiert und gewalttätig werden kann. Das sieht man in der Geschichte immer wieder. Egal ob die Opposition demokratischen Umbruch will oder im Terror endet. Das war bei der RAF so, bei der Revolution in Kuba und dem arabischen Frühling. Und auch heute erlebt man das in vielen Ländern.
Trotzdem kommt oft der Vorwurf: Heutige Oppositionsbewegungen bewegen nicht viel, weil sie nicht mit einer Stimme sprechen.
Der Vorwurf ist berechtigt, geht aber am Wesen dieser Gruppen vorbei: Sie wollen gar nicht mit einer Stimme sprechen, schon den Gedanken daran lehnen sie ab. Wenn einer spricht, ist das automatisch eine Zensur derer, die nichts sagen wollen oder können.
Macht es sich die Opposition damit nicht unnötig schwer?
Manchmal schon. Aber dahinter steht eine neue Geisteshaltung: Viele Oppositionsbewegungen haben kein Interesse mehr daran, ihr Handeln zu erklären – die wollen lieber vormachen, wie ihre Vision einer anderen Welt aussehen könnte. Manche ziehen sich dafür in Camps oder sogenannte Ökodörfer zurück, um neue Gesellschaftsformen auszuprobieren, ohne Geld und Macht.
Also Rückzug als letztes Mittel der Opposition?
Nein, denn sie hinterlässt ja trotzdem einen Eindruck. Occupy hat zum ersten Mal seit Langem die Systemfrage gestellt: Gibt es eine bessere Form des Zusammenlebens als den Kapitalismus? Das sickert jetzt in die Gesellschaft ein und beeinflusst auch die etablierten Parteien: Im Bundestagswahlkampf der SPD ging es um Gerechtigkeit. Die haben auch von Occupy gelernt. Wem schadet Opposition am meisten? Das lässt sich oft erst Jahre später beurteilen. Denn in der Vergangenheit hat Opposition oft erst mal das Gegenteil von dem erreicht, was sie eigentlich will.
Das müssen Sie erklären.
Nehmen wir die Anarchismus-Bewegung im 19. Jahrhundert. Die wollten weniger Staatsmacht – und haben den europäischen Staaten damit einen so großen Schrecken eingejagt, dass die Behörden aufgerüstet haben. So ist eine systematische Erfassung von Verdächtigen entstanden, die später auch zur Abnahme von Fingerabdrücken zur Strafverfolgung geführt hat. Am Ende standen die Anarchisten einem effektiveren Staat gegenüber als zu Beginn ihrer Aktivitäten. Also denken viele Oppositionelle: Alles, was sie tun, stärkt die Macht. Dann ist man schnell in der Paralyse und will aus der Wahrnehmung verschwinden.
Wie lange kann eine Oppositionsgruppe existieren, wenn sie nicht wahrgenommen wird?
Sehr lange, wenn der Zusammenhalt der Gruppe stimmt. Da gibt es Strategien und Handbücher. Denn Opposition kann auch frustrierend sein. Vor allem, wenn sich das gesellschaftliche Klima geändert hat, und eine Gruppe, die früher wichtig war, an Einfluss verliert.
Sprechen Sie von der FDP?
Sagen wir so: Die werden es nicht leicht haben. Denn die FDP hat keine Infrastruktur des Durchhaltens fernab der Macht. Die Grünen sind von der Straße irgendwann im Parlament gelandet. Aber die FDP war nie außerhalb des Parlaments. Vielleicht besinnen sie sich auf ihre liberalen Werte, die ja durchaus ihre Berechtigung haben. Aber gerade in der Phase, in der Gruppen sich neu orientieren müssen, kann auch viel Unsinn passieren. Denn bei aller Sympathie: Opposition kann auch ziemlich nerven.
Wann haben Sie sich zum letzten Mal über Oppositionelle geärgert?
Wir haben an der Uni Proteste gegen Forschung, die angeblich das herrschende System unterstützt. Das gipfelt darin, dass Leute unser Gebäude mit Farbe beschmieren, und in Vorwürfen im Netz, dass wir der Militarisierung Deutschlands Vorschub leisten und den Überwachungsstaat unterstützen. Wer sich unsere Forschung anschaut, erkennt, dass das Blödsinn ist: Nur weil wir zu Sicherheitskulturen forschen, arbeiten wir doch nicht an der Verfeinerung von Überwachungsstrategien! Solche Kritik kommt einem Denkverbot gleich, das regt mich auf.
Jetzt klingen Sie selbst wie eine Regierungspartei, die über die Opposition schimpft.
Das mag sein und gehört dazu. Aber es gibt einen Unterschied: Auch wenn ich Protest manchmal dumm finde – wir müssen ihn ertragen. Selbst wenn wir nicht einsehen, wogegen er sich richtet. Ein Teil von mir versteht es ja auch. Und ich kann dabei etwas sehr Wichtiges lernen.
Was denn?
Die Opposition hat viel mehr Macht, als man glaubt. Sie kann mit relativ geringem Aufwand den Mächtigen die Grenzen ihrer Macht vor Augen führen. Sei es durch Farbe an Unigebäuden. Oder durch einen Besuch bei Edward Snowden, der die Amerikaner aufregt und den sich nur ein Oppositionspolitiker wie Ströbele erlauben kann. Wenn man mit so wenig Aufwand eine Regierung in Erklärungsnot bringt, zeigt sich: Auch wenn die Opposition nicht viele Sitze hat – der Regierung stehen harte Zeiten bevor. Und der Demokratie geht es besser als manche denken.
(Foto: dpa/Sergey Dolzhenko)