Gerade habe ich Tobias Rapps Lost and Sound – Berlin, Techno und der Easyjetset zugeklappt. Interessantes Buch! Rapp beschreibt darin, wie sich die Berliner Technoszene in den Nullerjahren entwickelt hat. Das ist überraschend, weil Techno als Musik der Neunziger gilt, die zum Ende des Jahrzehnts implodierte. Nun steht hier, dass Berlin in den vergangenen Jahren zur Welthauptstadt dieser Musik wurde und dass jedes Wochenende Tausende mit Billigfliegern in die Stadt kommen, um in Clubs wie dem Berghain oder dem Watergate zu feiern. Ich erinnere mich noch gut an diverse Bücher aus den Neunzigern, in denen schon damals über die zentrale Rolle Berlins für die Technobewegung philosophiert wurde. Das Angenehme an Rapps Buch ist nun aber, dass es kein verquastes Manifest ist, sondern ein journalistisches Werk. Sprich: Der Autor, der lange bei der Taz war und nun zum Spiegel wechselte, stellt eine kulturelle Entwicklung dar und bedient sich dafür journalistischer Werkzeuge wie Recherche, Dramaturgie und szenische Beschreibung; auch ist der Stil angenehm flüssig. Das klingt erstmal nicht wirklich spektakulär, ist in Popbüchern, die oft auf apodiktischen Prämissen beruhen, aber viel zu selten die Regel.
Vor allem gefällt mir, dass Rapp sich nicht im Labyrinth der Theorie verliert. Man merkt, dass er sich damit auskennt, und poptherothische Standardsätze wie jene vom Dancefloor als »utopischem Ort« tauchen auch hier auf. Dennoch steht schon auf Seite 15, dass die Clubkultur »weit weniger mit Politik« zu tun habe, als man in den Neunzigern »in manch euphorischem Augenblick« glaubte.
Die Verbindung zwischen Pop und Politik ist eine der Säulen der Poptheorie. Die große Leistung von Rapps Buch besteht meines Erachtens darin, einmal detailliert herauszuarbeiten, welche Wechselwirkungen zwischen Pop und Politik im Berlin der Nullerjahre tatsächlich stattgefunden haben. Da kommt einiges zusammen: Rapp spürt dem Einfluss nach, den die Clubkultur auf Stadtentwicklung, Bevölkerungsmischung, Berliner Wirtschaft und die Akzeptanz alternativer Lebensentwürfe hat. Nicht belegen lässt sich jedoch jener revolutionäre Impuls, von dem die Pop-Utopisten träumen. Letzten Endes findet alles im Rahmen unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung statt und stärkt diese auch auf gewissen Weise.
Auffällig ist die Ernsthaftigkeit seiner Protagonisten. Die DJs, Labelmacher und Clubbtreiber (leider sind es ausschließlich Männer), die er zu Wort kommen lässt, sind alle klug und sympathisch; das eigene Tun reflektieren sie mit nüchterner Distanz. Eine neue Generation geradliniger Profis scheint die vollverstrahlten Unsympathen und Egomanen abgelöst zu haben, die in den Neunziger die Berliner Technoszene dominierten. Fast vermisst man diese ein wenig, denn Rapps Erzählung wäre noch ein wenig lebendiger, hätte er einen leicht wahnsinnigen Techno-Stalinisten vom Schlage eines Rok oder Motte aufzubieten gehabt.
Überhaupt musste ich beim Lesen ständig daran denken, wie schade es ist, dass in den Neunzigern niemand ein ebenso kluges, gut recherchiertes Buch über die Berliner Technoszene geschrieben hat. So interessant Rapps Geschichte der Nullerjahre ist – damals war eindeutig noch mehr Musike drin. Denn zu den Diskussionen um Underground und Mainstream, um neue Clubs, neue Musik und Streit mit den Behörden kam Anfang der Neunziger ja noch die Tatsache hinzu, dass mit dieser Musik plötzlich Millionen gescheffelt wurden, was zu Dekadenz, Größenwahn und brutalen Verteilungskämpfen führte. Ich hoffe sehr, dass dieses Buch irgendwann geschrieben wird, genauso wie ich weiterhin auf den Tausend-Seiten-Wälzer 100 Jahre Mitte – vom Führerbunker zum Technobunker warte.
Offensichtlich bin ich nicht der einzige, der dieses Gefühl hat. Rapp schreibt, er habe bei seiner Recherche festgestellt, dass der »Wunsch nach einer Historisierung weit verbreitet« sei. Er wollte ein Gegenwartsbuch schreiben und konnte diesem Wunsch nicht nachgeben. Ich kann es. Hier also meine persönliche Hitliste der besten Berliner Clubs der Neunziger:
1. Elektro
Winziger Kultladen, der sich mir wegen der großartigen Sets des Resident DJs Tilmann ("Der Meister aller Klassen") eingeprägt hat – und wegen des Schoko-Automaten, der vor dem stets verstopften Klo hing.
2. Friseur
Gleich um die Ecke vom Elektro. Lange ein stilprägender Club, die beste Phase hatte der Friseur nach meinem Empfinden aber zirka 1994, als ein Typ namens Patrick hier sonntags die wunderbare Partyreihe »Fuzzy Logic« veranstaltete.
3. WTF
Notdürftig umgebaute Etage im zweiten (oder vierten?) Stock eines leerstehenden Hauses an der Holzmarktstraße. Legendäre Jungle-Parties. Mein Höhepunkt: Als sich mein Kumpel Frankie beim Auftritt von Shy FX und MC Navigator von letzterem das Mikro geben lies und zu einem Metalheadz-Beat Mundharmonika spielte.
4. Club for Chunk
Unter einer Baracke an der Rosenthaler / Ecke Steinstraße lag dieser winzige Kellerclub. Keine Tanzfläche, kein Platz für irgendwas, aber trotzdem regelmäßig Konzerte von gut gelaunten Computerfummlern.
5. WMF II
Auf dem damals noch brachliegenden Potsdamer Platz stand ein Baucontainer. Drinnen führte eine Treppe hinab in das alte Herrenklo des S-Bahnhofs. Dort spielte die Musik. Das WMF gab es an vielen Locations, aber das war die beste.
6. Sexiland
Das ist alles schon ein bisschen länger her und vieles verschwimmt im Rückblick. Aber ich erinnere mich, dass es auch direkt auf dem Rosenthaler Platz einmal einen Club in einer stillgelegten, unterirdischen Toilette gab. Ich glaube, es lief Drum & Bass, Bass Dee oder so, und ein paar Mal war ich da.