"Was halten Sie von zwei Kanzlern?"

Angela Merkel, Gerhard Schröder und Edmund Stoiber mussten schon viele Interviews geben. Aber solche Fragen haben sie noch nie beantwortet: drei deutsche Spitzenpolitiker im Gespräch mit vier geistig behinderten Reportern.

Die vier Reporter, die diese Gespräche geführt haben, bezeichnen sich als Menschen mit Lernschwierigkeiten. So nennt man Behinderte, bei denen einige Funktionen des Gehirns unterdurchschnittlich entwickelt sind: Solche Menschen können zum Beispiel Artikulationsschwierigkeiten haben oder länger brauchen, um geschriebene und gesprochene Worte zu verstehen. Cristina Rimböck, 33, und Ursula Skudlarek, 28, wohnen in Unter- bzw. Oberschleißheim bei München und arbeiten am Heilpädagogischen Centrum Augustinum. Werner Freudenstein, 44, und Josef Ströbl, 49, kommen aus Kassel und sind beim Netzwerk People First e.V. beschäftigt, einem Verein, der sich für die Belange Behinderter einsetzt.

1. Edmund Stoiber
Wie verläuft Ihr Tag als Ministerpräsident?
Edmund Stoiber:
Er geht früh los. Um sechs Uhr läutet der Wecker, ich stehe auf, dusche, und frühstücke zunächst einmal gemeinsam mit meiner Frau. Anschließend lese ich die wichtigsten Zeitungen und bereite mich auf den Tag vor. Wenn ich keinen Termin außerhalb Münchens habe, bin ich spätestens um neun Uhr im Büro. Dann beginnt der ganz normale Tagesablauf mit vielen Besprechungen, Telefonaten, Veranstaltungen mit Bürgern. Das ist mir wichtig, weil ich wissen will, wo der Schuh drückt. Meistens bin ich nicht vor zwölf Uhr nachts zu Hause. Die Arbeit macht mir viel Freude, ist aber auch anstrengend. Deshalb genieße ich auch ganz besonders die wenigen freien Stunden am Wochenende, die ich gemeinsam mit meiner Familie, vor allem mit meinen beiden Enkelkindern Johannes und Benedikt, verbringen kann. Herr Stoiber, könnten Sie vielleicht ein bisschen lauter reden. Ich habe nämlich Probleme, Sie zu verstehen.
Natürlich, gerne.

Kennen Sie »leichte Sprache«? Was tun Sie, damit Menschen mit Lernschwierigkeiten Sie verstehen?
Richtig, politische Zusammenhänge sind oft sehr kompliziert. Deshalb ist es wichtig, den Menschen die Politik mit einfachen Worten zu erklären. Das ist nicht immer ganz leicht. Aber ich bemühe mich, die Dinge so zu sagen, dass sie auch jeder verstehen kann. Letztlich kommt es darauf an, dass die Menschen einem Politiker vertrauen können.

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Glauben Sie, dass das Anti-Diskriminierungsgesetz in Ihrer Regierungszeit noch verabschiedet wird?
Das Anti-Diskriminierungsgesetz ist ein Bundesgesetz, das vom Parlament in Berlin verabschiedet wird. Ich bin sicher: Das Gesetz wird noch in dieser Legislaturperiode das heißt bis zum Herbst 2006 auf den Weg gebracht.

Die Bundestagswahl ging vom Ergebnis sehr knapp aus. Was halten Sie von zwei Kanzlern? Dann könnten Sie zusammen mit Gerhard Schröder das Land regieren.
Das wäre ja eine ganz besondere Art großer Koalition. Da habe ich meine Bedenken. Denn wenn Politiker mit unterschiedlichen Vorstellungen gemeinsam regieren, müssen sie dauernd Kompromisse schließen, die dem Land nicht viel nützen. Besser ist eine klare Linie in der Regierungspolitik und eine starke Opposition.

Waren Sie traurig, dass Sie nicht Kanzler geworden sind?
Ich wollte es werden, weil ich überzeugt bin, dass wir mit einer Unionsregierung dem Land mehr wirtschaftlichen Aufschwung bringen können. Aber ich nehme das sportlich. Jetzt wollen wir das Rückspiel 2006 gewinnen.

Was machen Sie als Ministerpräsident, damit Menschen mit Behinderungen nicht in Großeinrichtungen leben müssen?
Unser Ziel ist, den Menschen mit Behinderungen ein Leben zu ermöglichen, das so selbstbestimmt wie nur möglich ist. Jeder soll nach Möglichkeit das Wohnangebot wählen können, das für ihn am besten ist. Das ist für den einen die Einzelwohnung, für den anderen die Wohngemeinschaft oder das betreute Wohnen. Wir haben für die Behindertenpolitik insgesamt im vergangenen Jahr fast 700 Millionen Euro ausgegeben. Damit liegt Bayern in Deutschland ganz weit vorn. Nicht nur die Wirtschaft soll gut sein, auch die Lebensqualität.

Wie möchten Sie, dass die Zukunft in Deutschland aussieht? Denken Sie dabei auch an Menschen mit Behinderungen?
Natürlich. Gerade in einer Gesellschaft, die sehr stark mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, müssen wir immer wieder deutlich machen: Eine humane Gesellschaft muss auch mit denen solidarisch sein, die es ein Stück schwerer haben. Dazu gehört, dass Menschen mit Behinderung besondere Akzeptanz und Unterstützung bekommen, damit sie selbstbestimmt leben können.

Ich habe den Begriff Akzeptanz nicht verstanden. Was meinen Sie damit?
Sehen Sie, es ist gar nicht so einfach mit der »leichten Sprache«. Ich meine, dass die Bürger in unserer Gesellschaft Rücksicht nehmen auf die Probleme, die Menschen mit Behinderungen haben. Hier hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr viel Positives entwickelt. Denken Sie beispielsweise an Schulklassen, in denen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Was früher als Belastung empfunden wurde, wird heute als Bereicherung für alle verstanden.

Was ärgert Sie in Ihrem Amt, was haut Sie um?
Als Politiker muss man auch in einem hohen Amt kritikfähig bleiben. Kritik nehme ich ernst, aber sie haut mich nicht gleich um, sondern man muss aus ihr lernen und es künftig besser machen. Was mich im wahrsten Sinne vom Hocker gehauen hat: als Bayern München im Champions-League-Finale in der Nachspielzeit gegen Manchester United verloren hat. Aber das nächste Finale haben wir gewonnen.

2. Gerhard Schröder

Wir freuen uns, dass Sie sich Zeit für uns nehmen. Wir haben nämlich gehört, dass Sie heute auch einen Staatsbesuch haben.
Gerhard Schröder:
Heute war der rumänische Ministerpräsident hier. Aber der ist schon wieder weg.

Wie verläuft Ihr Tag als Kanzler?
Ich stehe so ungefähr um acht auf. Dann frühstücke ich. Dann beginnt die Arbeit. Entweder kommen den ganzen Tag über Gäste. Oder ich lese Akten und spreche mit meinen Ministerinnen und Ministern und mit den Mitarbeitern.

Kennen Sie die »leichte Sprache«? Und was tun Sie, damit Menschen mit Lernschwierigkeiten Sie verstehen? Wir von People First nennen uns Menschen mit Lernschwierigkeiten, denn wir mögen das Wort »geistig behindert« nicht.

Ich weiß, dass es die leichte Sprache gibt und dass euer Verein ein Wörterbuch gemacht hat. Ich weiß natürlich auch, was damit bezweckt wird, nämlich einfach und klar zu sprechen, sodass jeder einen versteht. Jetzt muss ich ein Geständnis machen: Ich schaffe das nicht. Manchmal gebrauche ich zu viele Fremdwörter und mache zu lange Sätze.

Glauben Sie, dass das Anti-Diskriminierungsgesetz - ein schwieriges Wort - in Ihrer Regierungszeit noch verabschiedet wird?
In meiner Regierungszeit sicher - ich will ja noch lange regieren. Aber auch in der jetzigen wie man es nennt Legislaturperiode? Ich glaube, wir kriegen das hin. Wir wollen, dass bei allen Geschäften, die im Alltag mit Behinderten gemacht werden, keine Benachteiligung wegen ihrer Behinderung stattfindet.

Was machen Sie als Bundeskanzler, damit Menschen mit Behinderungen nicht mehr in Großeinrichtungen leben müssen?

Wir haben gerade ein Gesetz gemacht, das behinderten Menschen das Recht gibt, so weit es geht, in der Familie oder in Wohngemeinschaften zu wohnen und trotzdem die Leistungen zu bekommen, die es gesetzlich gibt. Wir haben, glaube ich, als Bundesregierung vieles zugunsten behinderter Menschen verändert. Und das ist auch eine Herzensangelegenheit für mich.

Was halten Sie von zwei Kanzlern? Dann könnten Sie sich die Arbeit teilen mit Herrn Stoiber.
Das würde nicht funktionieren. Ich fürchte, dass wir dann mehr Arbeit hätten. Denn der eine will dies und der andere das Gegenteil. Wir brauchten dann einen dritten, der schlichtet.

Wie möchten Sie, dass die Zukunft in Deutschland aussieht? Denken Sie dabei auch an Menschen mit Behinderungen?
Ich denke, das Wichtigste, was wir alle brauchen, ob behindert oder nicht, ist, dass Frieden herrscht in Deutschland, Europa und möglichst überall in der Welt. Wir müssen erreichen, dass wir auch weiterhin gut leben können, Behinderte wie nicht Behinderte. Wir müssen also wohlhabend bleiben als Land, um die Leistungen, die wir Behinderten zu Recht zur Verfügung stellen, auch in Zukunft bezahlen zu können.

Können Menschen mit Lernschwierigkeiten auch Bundestagsabgeordnete werden?

Ich kann mir das durchaus vorstellen. Ich denke, dass wir alle ein Interesse daran haben, sehr unmittelbar die Erfahrungen von behinderten Menschen mitzukriegen, auch von solchen mit Lernschwierigkeiten.

Vielleicht nicht alle Abgeordneten, aber zwei, drei...

Wir merken das ja, wenn wir uns unterhalten. Ihr Problem ist nicht, dass Sie die Dinge nicht verstünden. Sie brauchen halt ein bisschen mehr Zeit.

Richtig.

Und die Zeit kann ja gegeben werden. Ich sehe also keine grundsätzliche Schwierigkeit für einen Parlamentarier, der Lernschwierigkeiten hat. Er wird allerdings ein bisschen fleißiger sein müssen.

Und wenn eine Frage kommt, muss er länger darüber nachdenken. Nach zehn Minuten kann er dann vernünftig antworten.

Er wird sicher nicht zu denen gehören, die die ganz gewaltigen Reden halten. Aber diese Menschen haben besondere Erfahrungen, die uns, die wir nicht behindert sind, auch reicher machen würden, wenn wir mehr darüber wüssten. Reich meine ich jetzt nicht an Geld, sondern an Erfahrung.

Haben Sie irgendwelche Hobbys?

Ich habe zwei sportliche Hobbys: Einmal Fußball, ich habe früher selbst gern gespielt, auch nicht so schlecht. Jetzt spiele ich Tennis. Daneben lese ich gern und habe eine große Leidenschaft: Ich liebe gemalte Bilder.

Das haben wir schon gesehen, dass hier im Kanzleramt viele Bilder hängen. Haben Sie die selbst ausgesucht?

Nein, die sucht eine Kommission aus, die heißt Kunstkommission. Die Bilder die hier hängen, hat uns ein Sammler für eine gewisse Zeit zur Verfügung gestellt. Aber natürlich fragt man mich, ob ich die Bilder gut finde. Und wenn ich eins nicht gut finde, wird's auch nicht aufgehängt.

Wenn Sie sich bei uns in Oberschleißheim ein Bild aussuchen möchten, können wir Ihnen gern eins schicken!

Ja natürlich. Aber es sind ja doch sehr große Bilder, die wir brauchen, weil es so große, riesige Wände sind.

Dann die letzte Frage: Was tun Sie, um den Dritten Weltkrieg zu verhindern?
Ich versuche, mit anderen Staatsmännern und Staatsfrauen dafür zu sorgen, dass Streit möglichst friedlich beigelegt wird. Ich versuche dafür zu sorgen, dass die ärmeren Länder mehr Geld bekommen, damit sie für Elektrizität sorgen können, für Medikamente, damit sie ihre Kinder zur Schule gehen lassen können. Das nennt man Entwicklungszusammenarbeit, und da versuchen wir, eine Menge zu tun. Das ist die sicherste Möglichkeit, um den Ausbruch ganz großer Kriege zu verhindern. Aber leider gibt es immer noch zu viele davon.

3. Angela Merkel

Was tun Sie, damit Menschen mit Lernschwierigkeiten Sie verstehen?
Angela Merkel:
Ich glaube, dass wir so sprechen sollten, dass jeder alles verstehen kann. Insofern hat auch die Politik die Aufgabe, ihre Botschaften in einer leichten Sprache verständlich zu machen. Zu den nächsten Bundestagswahlen wollen wir versuchen, unser Programm auch in eine leichte Sprache zu übersetzen.

Wie verläuft Ihr Tag?
Wenn ich in Berlin bin, beginnt mein Tag meistens so, dass ich zu Hause mit meinem Mann frühstücke und um acht hier zur ersten Besprechung bin. In den Sitzungswochen beginnt dann um neun das Plenum im Deutschen Bundestag. Dann hat man den Tag über viele Sitzungen und Termine. Abends komme ich spät nach Hause und freue mich, wenn der Tag auch mal zu Ende ist.

Glauben Sie, dass das Anti-Diskriminierungsgesetz noch verabschiedet wird bis zur nächsten Bundestagswahl?
Es geht ja um die Umsetzung einer europäischen Richtlinie, aber die Diskussion verläuft sehr kontrovers.

Entschuldigung, was heißt das, kontrovers?
Die Menschen haben unterschiedliche Meinungen. Es ist ein schwieriges Gesetzgebungsvorhaben. Das Ziel der Bundesregierung ist wohl, es noch in dieser Legislaturperiode abzuschließen. Persönlich fände ich es aber wichtiger, dass wir konkret etwas für Menschen mit Behinderungen tun, als dass wir uns jetzt um alle Fragen - von Frauenfragen bis zu Religionsfragen - in einem Gesetz kümmern und zum Schluss vergessen, wie wir den Menschen tatsächlich helfen können.

Was machen Sie als Parteivorsitzende, damit Menschen mit Behinderungen nicht in Großeinrichtungen leben müssen?
Wir wollen, dass die Städte und Gemeinden finanziell stark sind, damit sie das selbstbestimmte Leben von Behinderten ermöglichen können. Das heißt, dass man in der Nähe seiner Familie, seiner Freunde leben kann, dass man geschützte Wohnungen hat.

Was meinen Sie mit geschützten Wohnungen?
Wohnungen in normalen Wohnhäusern, wo man bestimmte Möglichkeiten schafft für körperliche Behinderungen oder eine bestimmte Nähe zur Betreuung hat.

Sie brauchen ja auch Hilfe für Dinge, die Sie zu Hause erledigen müssen, Frau Merkel. Das ist eigentlich auch für Sie ein geschütztes Wohnen...
Sagen wir mal: Es sind unterschiedliche Schutzstandards. Was wichtig ist und was wir beide meinen: dass man versuchen sollte, Behinderte nicht irgendwo dort hinzubringen, wo sie den Kontakt zum Leben in der Gesellschaft verlieren können.

Was machen Sie, damit Menschen mit Lernschwierigkeiten Sie wählen?
Wir setzen uns für ein eigenständiges Leistungsgesetz für behinderte Menschen ein. Wir wollen, dass das, was heute Eingliederungshilfe heißt und von den Kommunen als Teil der Sozialhilfe ausbezahlt wird, in ein besonderes Gesetz gebracht wird, sodass der Bund aus den Steuereinnahmen die Leistungen zahlt, die Behinderten zustehen. Wir sind deshalb dafür, weil diese Leistungen in den letzten Jahren angewachsen sind, die Kommunen aber nicht mehr das Geld haben. Wer behindert ist, ist das meistens lebenslang und der soll eine beständige gesetzlich geregelte Hilfe haben, die nicht von der Finanzsituation der Gemeinden abhängt.

Was haut Sie vom Hocker, was haut Sie um?
Wenn mir einer glatt ins Gesicht lügt. Wenn ich weiß, das stimmt nicht und der erzählt mir das einfach.

Wie reagieren Sie dann?
Ich versuche, ganz ruhig zu sein und einzuschieben, dass ich weiß, dass es eine Lüge ist. Früher habe ich gleich losgeschrien. Jetzt versuche ich, ein bisschen geschickter zu sein.

Wie möchten Sie, dass die Zukunft in Deutschland aussieht? Denken Sie dabei auch an Menschen mit Behinderungen?
Ich möchte, dass die Menschen in vernünftigem Wohlstand leben können. Das schließt ein, dass jeder ein menschenwürdiges Leben führen kann; gerade Menschen mit Behinderungen haben es ja nicht einfach. Aber das ist nicht nur eine materielle Frage. Ich möchte, dass in der Gesellschaft keine Fremdheit zwischen Behinderten und nicht Behinderten herrscht. Viele Menschen wissen gar nicht, wie sie auf Behinderte zugehen sollen. Ich glaube, wir müssen Vorurteile abbauen, mehr Verständigung suchen und zwischen Menschen, die sich normalerweise gar nicht begegnen, mehr Kontakte schaffen. l