Plötzlich liegt sie vor mir, die Versuchung: eine frisch geteerte Landstraße in den Erdbeerplantagen zwischen Los Angeles und Santa Barbara, schnurgerade Strecke, bis auf die nagelneuen, glänzenden Markierungen noch unbefleckt. Ich allein im Auto, freie Sicht, keine anderen Autos am Horizont, keine Fußgänger. Mick Jagger feuert mich aus dem Autoradio an: Start me up! Hey, Mick, jetzt schauen wir mal, was der Leihwagen drauf hat, oder?
In Amerika gibt es keinen Meter Straße ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Das ist auch gut so, denn die vielen Schlaglöcher verwandeln jede Landstraße in eine Achterbahn. Aber nach sechs Monaten Amerika, sechs Monaten Im-Stau-Stehen, sechs Monaten im Meer aus Bremslichtern juckt der Gasfuß auf dem Rückweg vom Workshop in Ojai, gleich nach der Autobahnausfahrt von der chronisch verstopften 101. Mal ausprobieren, was geht? Wie schnell der BMW beschleunigt? Mean Machine, röhrt Mick, Kick on the starter, give it all you've got.
Ich bin nun mal in Deutschland aufgewachsen und zu einer Zeit zwischen Köln und München gependelt, als bestimmte Autobahnabschnitte noch regelrechte Rennstrecken waren. Ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Das liegt mir in den deutschen Genen, dafür kann ich nix.
Mit 228 Pferdestärken gibt der X1 Gas wie ein junger Rolling Stone. 100, 120, 140, …Mick Jagger stöhnt: Ride like the wind, at double speed. Mick und ich waren immer schon ein gutes Team. Moment mal! War das ein Cop am Straßenrand!? Mist, das war ein Sheriff! Im Rückspiegel sehe ich, wie er zurücksetzt, wendet und die Verfolgung aufnimmt. Wäre verführerisch, jetzt einfach noch mehr Gas zu geben (I'll never stop, never stop,... Mick, du alter Brite), aber ich will ja nicht im Live-TV landen, und schon gar nicht im Straßenrand. Lieber gleich gute Führung zeigen und bremsen, dass die Reifen quietschen.
»Ma’am!« herrscht mich der bullige Cop mit grimmiger Miene an. »Wissen Sie, wie schnell Sie gefahren sind?« Please don’t make a grown woman cry…. Ich asphaltiere meine Antwort mit dem dicksten deutschen Akzent. »Siiiiir, war ich etwas zu schnell?!« Mein Charme prallt an der Cop-Uniform ab wie Jagger beim Stage-Bouncing. Every cop is a criminal, das weiß ich von Mick. »160 kmh!« knurrt der Bulle, erlaubt sind 80. Herrje, das wird teuer! »Führerschein! Versicherungsnachweis!« bellt es.
Während der Sheriff zurück zu seinem Auto geht, um mich zu überprüfen, google ich kurz, was mich der schnelle Spaß kosten wird. Google sagt: etwa 2000 Dollar, Führerscheinentzug, Fahrschule und bis zu sechs Monate Gefängnis. Beim heiligen Christophorus, Schutzpatron der Autofahrer, da hört der Spaß auf! Der Sheriff hat inzwischen herausgefunden, dass ich keine Serientäterin bin: keine Vorstrafen, bisher keine Strafzettel. »Wie teuer wird das?« flüstere ich ängstlich, nun eher verschwitzter Roadie als Rockstar, aber der Cop händigt mir nur eine Gerichtsvorladung aus und brummt: »Das sehen wir dann vor Gericht.«
Als ich beim Workshop am nächsten Tag von meinem Missgeschick erzähle, erwarte ich Mitleid, vielleicht einen Anflug von Schadenfreude, schließlich habe ich mir das Schlamassel selbst eingebrockt. Ich rechne nicht mit der gelassenen, einmütigen Antwort: »Ist doch kein Problem, noch nie von der Ticket Clinic gehört?«
Es gibt eine Klinik für Strafzettel? Kann ich mich da in die Notaufnahme einliefern lassen? Eine kurze Recherche ergibt: Es gibt nicht eine Klinik, es gibt Hunderte. Ticket Clinic, Ticket Crushers, Traffic Ticket Superheros, das scheint ein boomender Markt zu sein.
Ich rufe an, überweise 80 Dollar und bekomme eine 14-seitige, eng beschriebene Verteidigungsschrift geschickt, die ich ausfüllen und an das Gericht schicken soll. Darin liste ich alle entlastenden Umstände auf (Ersttäterin, trockene Straße, niemanden gefährdet), aber das Hauptargument macht mich sprachlos: Der Sheriff, sagt mein Antrag, war unfähig, seine Instrumente richtig zu lesen.
Das geht niiiiie durch, denke ich. Für wie blöd halten die den Richter? Meine Mutter ist Justizsekretärin. Wenn in Deutschland einem Autofahrer keine bessere Ausrede einfällt als den Polizisten für dumm zu erklären, würde der Richter die Strafe wegen Uneinsichtigkeit erst recht verdoppeln. Das muss ein Internet-Schwindel sein, auf den nur Idioten wie ich reinfallen. Aber gut, was habe ich zu verlieren? Sechs Monate Gefängnisboden schrubben klingt gar nicht gut. Also schicke ich den Antrag an das Gericht: Der Cop war unfähig.
(Hier eine dringende, aktuelle Durchsage an alle aktiven Leserbrief-Schreiber: Ja, Rasen ist dämlich und gefährlich. Sie haben Recht! Dafür gehöre ich bestraft, mindestens mit einem saftigen Denkzettel, das finde ich auch. Aber jetzt mal ganz ehrlich, wer von Ihnen noch nie zu schnell gefahren ist, der werfe den ersten Leserbrief in den SZ-Briefkasten!)
Nach zwei Wochen kommt die Antwort vom Gericht. Ich kann es nicht glauben: Das Verfahren ist eingestellt, der Gerichtstermin abgesagt. Meine Strafe: zero, gar nichts. Keine Punkte im Strafregister, kein Eintrag in die Sündenkartei. Die Ticket Clinic behauptet, ihre Erfolgsrate liege bei 90 Prozent. Das Geheimnis: Die Gerichte sind einfach zu überlastet, um sich mit jedem Geschwindigkeitsverbrecher anzulegen.
Mick hat Recht: And all the sinners are saints.
Foto: GETTYIMAGES/Andrew Rich