Mit ein paar flinken Handgriffen löst Bryson Voirin ein Dreifingerfaultier vom Ast eines Baumes – irgendwo im Regenwald von Panama. Die Gegenwehr hält sich in Grenzen. Ein wenig verzieht es das Gesicht und klammert sich noch fester. Doch es hilft nichts, denn Voirin ist hauptberuflich »professioneller Problemlöser«, so steht es auf seiner Homepage. Ein widerständiges Faultier von einem Ast zu lösen, gehört da zu den kleineren Herausforderungen.
Abgesehen hat es der Wissenschaftler der California Academy of Sciences in San Francisco auf etwas, das zunächst wenig begehrenswert erscheint: Bakterienstämme und Mikroorganismen im filzigen und grünlich schimmernden Fell des phlegmatischen Dschungelbewohners. Denn das Dreifingerfaultier, heimisch in Mittel- und Südamerika, könnte die Lösung sein für eine der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts: die zunehmende Ausbreitung von Bakterienstämmen, die resistent sind gegen nahezu alle bekannten Antibiotika.
Nur ein Bruchteil aller Bakterien lässt sich im Labor kultivieren – und fast alle bekannten Antibiotika basieren auf Wirkstoffen, die einen natürlichen Ursprung haben. Sie wurden zuerst in Pilzen, Bodenbakterien oder anderen organischen Quellen entdeckt. Das gilt auch für das erste Antibiotikum der Geschichte, Penicillin, dessen Wirkstoff der schottische Bakteriologe Alexander Fleming 1928 in einem Schimmelpilz nachwies.
Bis 1987 kamen in regelmäßigen Abständen neue Antibiotika auf den Markt. Seitdem stagniert die Entwicklung. Gleichzeitig haben sich durch den massenhaften Einsatz vorhandener Antibiotika Resistenzen entwickelt – mit der Folge, dass heute Krankheiten wieder tödlich sein können, die bis vor wenigen Jahren noch leicht zu therapieren waren. Zum Beispiel Tuberkulose, die schon im Mittelalter als Schwindsucht gefürchtet wurde. Seit 1993 stuft die WHO die Krankheit wieder als globale Bedrohung ein – mit etwa zwei Millionen Todesopfern jährlich.
Dem Dreifingerfaultier ist all das natürlich egal. Die ältesten Fossillien der Spezies sollen bis zu 18 Millionen Jahre alt sein, was ein Hinweis darauf ist, dass das mikrobielle Schutzsystem des Faultiers einen evolutionären Vorteil für das Tier bedeutete. Immerhin hat es mehrere Eiszeiten überlebt. Aus diesem Grund sind auch andere erdgeschichtlich besonders alte Tiere interessant für Forscher. Bewaffnet mit Pinzetten, kleinen Glasröhrchen und Petrischalen rücken sie diesen Tieren zu Leibe.
Beim Dreifingerfaultier läuft die Bakterien-Ernte dann so ab: Etwa einmal pro Woche verlässt es in gemächlichem Tempo seine Baumkrone und legt einen Haufen in eine kleine Erdmulde. Nach getaner Arbeit macht es sich »Bradypus variegatus«, so der wissenschaftliche Name, auf der eigenen Hinterlassenschaft bequem.
Das obskure Ritual, einen Mittagschlaf im eigenen Dung abzuhalten, ruft Millionen von Mikroorganismen, Algen und eine ganz bestimmten Mottenart auf den Plan, die im Fell des Faultiers leben. Die Motten legen bei diesem wöchentlichen Ausflug zum Erdboden ihre Eier ab, während sich die Mikroorganismen an den zusätzlichen Nährstoffen gütlich tun. Mit der Zeit bildet sich eine regelrechte Patina aus Algen, Motten und Bakterienstämmen im Fell. Genau dieses Amalgam aus Kot, Bakterien und anderen Kleinstlebewesen hat es internationalen Forschern wie Voirin angetan.
Es ist nicht der einzige kuriose Ort, an dem derzeit nach den Bakterienkillern der Zukunft gesucht wird. Der kanadische Wissenschaftsjournalist Bruce Mohun hat für seinen jüngsten Film »Resistente Keime – Die Entdeckung neuer Antibiotika« auch eine Forscherin, die Krokodile einfängt, um ihnen Blutproben zu entnehmen, getroffen. Oder einen Mann, der versucht einen Komodowaran an einem Wattestäbchen lecken zu lassen, ohne dass das Urtier dabei seine Hand frisst.
Pharmafirmen investieren kaum in die Suche nach neuen Bakterienkillern, zu teuer und ungewiss ist ihnen die Aussicht auf Erfolg. Es sind vor allem kleine Labore und Universitäten, die die Suche mit geringen finanziellen Mitteln vorantreiben. Ob es ihnen gelingt, das Potenzial noch unbekannter Mikroorganismen medizinisch zu erschließen, ist deshalb fraglich.
Vielleicht liegt die Lösung aber auch viel näher: in den Vollbärten junger Männer. Forscher vom Zentrum für Chirurgie und Öffentliche Gesundheit in Boston haben vor kurzem festgestellt, dass glattrasierte Männer eine dreimal höhere Wahrscheinlichkeit haben, den multiresistenten Krankenhauskeim MRSA auf ihren Wangen zu tragen.
Offenbar bietet der Kleinkrieg im Bartgeflecht von Männern einen besseren Schutz. Denn was von weitem unschuldig weich und flauschig erscheint, ist die Bühne eines dramatischen Überlebenskampfes: verfeindete Bakterienstämme versuchen sich dort gegenseitig mit antibiotischen Stoffen auszuschalten.
Dass der nächste vielversprechende Wirkstoff in einem Hipster-Bart darauf wartet, die Menschheit vor Pandemien zu bewahren, ist zwar unwahrscheinlich. Dass es aber ein seltsamer Ort ist, an dem der Wirkstoff der Zukunft auf Entdeckung wartet, ist sehr gut möglich.
Foto: AmpH