Als Schülerin beneidete ich meine Klassenkameraden um viele Dinge: Jeans mit Reißverschlüssen am Hintern, blonde Strähnchen, weniger strenge Eltern. Doch auf eine Sache war ich immer stolz: unsere Wohnung.
Meine Eltern leben in einem großen Haus aus der Jahrhundertwende mit noch größerem Garten und so hohen Decken, dass mein Vater in lauten Flüchen versinkt, wenn er eine Glühbirne auswechseln muss. Unser Flur ist so lang, dass meine Schwester und ich dort Wettsprints veranstalteten und unsere Küche so weitläufig, dass meine Mutter eine verwirrte Maus aus dem Garten einmal drei Wochen lang nicht wiederfinden konnte.
Doch das beste an der Wohnung ist die Lage: Zehn Minuten zum Bahnhof, zehn Minuten zur Einkaufstraße, zehn Minuten zur Schule, es gibt kaum einen Ort, von dem meine Eltern nicht zehn Minuten entfernt wohnen. Gleichzeitig haben wir unsere Ruhe. Auf der einen Seite des Hauses liegen Universitätsgebäude, in denen nicht mehr als eine Handvoll Menschen zu arbeiten scheinen. Auf der anderen Seite steht eine verlassene Klinik, durch dessen Garten Kaninchen hoppeln.
Unsere Wohnung ist also perfekt. Das wird einem schon klar, bevor man hört, dass die Miete kaum höher ist als die eines Münchner Einzimmer-Apartments. Und unsere Wohnung liegt weder in Chemnitz, noch in Halle oder Gelsenkirchen, sondern in einer hessischen Kleinstadt.
Und da wären wir beim Problem: Meine Eltern mieten die Wohnung. Der Vermieter kann also jederzeit Eigenbedarf anmelden, auch wenn ihm das erst nach 23 Jahren und keiner einzigen Mieterhöhung einfällt. Genau das geschah vor einem Monat.
Zähneknirschend, vor dem bösen Blick meiner Eltern zurückweichend, überreichte der Vermieter die Kündigung. Meine Mutter versank in Trauerstimmung. An den folgenden Abenden wälzte sie sich schlaflos im Bett, ohne auch nur eine Seite in dem Roman auf ihrem Nachttisch gelesen zu haben, während mein Vater eine Armee von Anwälten aufstellte und eine neue Ära der Hausbesetzungen herauf beschwor. So ging es anderthalb Wochen.
Dann guckten sich meine Eltern den Rohbau eines Hauses in einem gesichtslosen Gebiet am Stadtrand an und kauften es trotz fehlendem Keller bevor es ihnen jemand anders wegschnappen konnte. Ihre Trotzstimmung war der Angst gewichen, bald ohne ein Dach über dem Kopf dazustehen.
Seitdem hat sich zu der Trauerstimmung eine allgemeine Angst vor Veränderung gesellt. Meine Mutter versucht sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie in Zukunft Nachbarn haben wird, mit denen man Smalltalk über Wetter und zu laute Rasenmäher halten muss. Zumindest das kann man aber auch positiv sehen, denn vielleicht trauen sich in einer bewohnten Nachbarschaft die Einbrecher nicht mehr zu uns, wie sie es in der Wohnung meiner Eltern schon viermal getan hatten.
Mein Vater scheint die Angst vor Veränderung mit Aktionismus zu bekämpfen: Er hat eine Software entdeckt, mit der man die virtuellen Zimmer seines Hauses schon einrichten kann, bevor überhaupt der Rohbau fertig ist. Nun würde er am liebsten sofort einziehen, Fenster und Zimmerwände sind sowieso überbewertet. Jeden Tag bekomme ich eine Mail von ihm mit neuen Baustellenfotos und begeisterten Bildunterschriften. Für mich sehen die irgendwie alle gleich aus, nach kahlen Betonwänden, viel zu niedrigen Decken und kleinen Fluren.
Kann man Kindheitserinnerungen in einen Umzugskarton packen und wie eine Kiste Bücher mit in ein neues Haus tragen? Oder sind sie ortsgebunden, fest verwurzelt wie ein alter Baum, somit für immer mit dieser Wohnung, dieser Straße, diesen Räumen verbunden?
Wenn das neue Haus fertig gebaut ist und meine Eltern sich dort eingerichtet haben, wird meine Familie Bekanntschaft mit einem neuen Heimatgefühl machen müssen. Auf dem Weg zum Bahnhof, zu Freunden oder in die Stadt, werden wir an einem Haus vorbeilaufen, das über zwanzig Jahre lang unser Zuhause war. Wir werden das Licht im Wohnzimmer brennen sehen und nicht reingehen können, um es auszuschalten, weil das Stromverschwendung ist, wenn es noch nicht ganz dunkel ist, wie mein Vater immer sagt. Es wird ein komisches, trauriges Gefühl sein.
Als ich vergangene Woche das Elternhaus meines Freundes besuchte, habe ich fast geweint. Ich saß auf einer zu weichen Couch in seinem ehemaligen Kinderzimmer, starrte auf eine verstaubte Sammlung aus Erdbeer-Sekt-Flaschen und war neidisch. Auf sein Heimatgefühl, auf das kein Vermieter Eigenbedarf anmelden darf.
Ich will gar nicht an den Moment denken, an dem jemand anderes in mein Kinderzimmer einzieht. Ich habe so viele Tage und Nächte in diesem Raum verbracht, so viele Barbiepuppen gekämmt, so viele ICQ-Nachrichten verschickt, dass mir das eigentlich ein lebenslanges Anrecht auf das Zimmer einbringen müsste. Es ist unfair, dass nicht die darin verbrachte Lebenszeit, sondern ein Mietvertrag aus den 80ern bestimmt, wer dort wohnen darf.
Einerseits. Andererseits, mal emotionslos betrachtet, bin ich diejenige, die längst ausgezogen ist, Veränderung liebt und WG-Zimmer sammelt wie andere Leute Briefmarken. Ich kann mich nicht darüber lustig machen, wenn meine Mitbewohnerin die zehnte Woche in Folge in ihr Heimatdorf fährt - und gleichzeitig einer Wohnung hinterher weinen, die ich seit einem halben Jahr nicht mehr betreten habe. Was ich vermisse, ist nicht mehr mein Zuhause, sondern ein Museum meiner Kindheit, eine Dauerausstellung namens »Familienglück, 1995 - 2017«, die ich gerne ab und an besuchen möchte.
Ich versuche es so zu sehen: Es hat auch seine Vorteile, wenn man etwas Neues aufbaut. Meine Eltern können ihren Rohbau so gestalten, wie es ihnen gefällt. Kein Vermieter mehr, den man um Erlaubnis fragen muss. Eine Küchentür zum Garten ist kein Problem mehr, Obst-Bäume können sie pflanzen, wo sie wollen. Sind mein Vater und meine Mutter zufrieden, werde ich mich auch in einem fremden Haus heimisch fühlen können.
Und es ist ja noch Zeit für viele neue Erinnerungen, künftige Weihnachtsfeste, Abendessen, Sofadiskussionen, Geburtstage, an die ich in zehn oder zwanzig Jahren wehmütig zurückdenken kann. Wenn meine Mutter und mein Vater loslassen können, kann ich das doch erst recht. Aber vorher muss ich noch einen Zaun um das Beet ziehen, in dem mein Kaninchen begraben liegt.
Foto: complize / photocase.de