Manch eine Bindung bleibt nicht der unerschütterlichen Liebe wegen bestehen, nicht aus leidenschaftlicher Anziehung. Was sie zusammenhält, sind vielleicht gemeinsame Erinnerungen, alte Gewohnheiten – und ja, auch die Angst vor dem, was danach kommt. Das klingt nun ganz nach eingerosteter Ehe, nach zu häufig aufgewärmter Jugendliebe, doch hier geht es, ganz banal, um Plastik. Das Material, das einst für Aufschwung und Leichtigkeit stand – und heute von einer ausgesprochen unsympathischen Aura umgeben ist. Die Chronologie einer zerfallenden Romanze.
Italien, ein Sommer in den frühen 2000er Jahren. Es war noch einfach, gemeinsam glücklich zu sein. Plastik, das war der Inbegriff der Leichtigkeit, der süßen Versuchung, der unbeschwerten Zweisamkeit. Ich schlürfte viel zu süße Limo aus Einwegflaschen, löffelte Unmengen an Eis aus Plastikbechern, schwamm mit knallorangefarbenen Schwimmflügeln durch die bedingt hohen Wellen der Adria. Plastiktüten waren der Allzweckhelfer: Sie hielten die frischen Orangen aus dem Supermarkt, Bücher und Sonnencreme für den Strand, später das nasse Handtuch und den salzgetränkten Bikini. Mein ständiger Begleiter war ein aufklappbares Spielzeughandy, das sich ständig auf Italienisch nach meinem Befinden erkundigte. Come stai? Die Welt war aus Plastik und für mich in Ordnung.
Ein paar Jahre zuvor, zuhause im Wohnzimmer, meine erste eigene Geburtstagsfeier. Ein Plastiktisch, bunte Plastikstühle, Tischdecke, Besteck, Becher, alles aus dem bunten Kunststoff. Meine heutigen Erinnerungen daran stützen sich ehrlicherweise vor allem auf alte Fotoalben. Die Benjamin-Blümchen-Torte mit der Elefantenfigur aus Kunststoff war der Hit, der selbstgebackene Bananenkuchen meines Vaters hingegen eher ein kläglicher, wenn auch gut gemeinter Versuch auf Einwegtellern.
Irgendwann füllten die Plastikbecher statt viel zu süßer Limo viel zu süße Mischgetränke, Malibu-Kirsche oder billiger Weißwein mit Sprite. Die Augenringe am nächsten Morgen, dunkel wie die schwarzen Müllsäcke aus Plastik, die die Überbleibsel des gestrigen Abends wohlwollend in sich aufnahmen. Dazu die vielen Abende im Drive In, der Kleinstadtversion jener beliebten Fastfoodkette, die für einen Euro Softeis mit Schokosoße im durchsichtigen Kunststoffbecher servierte.
Plastik bringt mich ins Grübeln, in moralische Dilemmata, getrieben vom schlechten Gewissen in meinem Hinterkopf
Plastik war überall, Plastik wurde zum Problem. Im Jahr 2016 waren es rund 18 Millionen Tonnen Plastikmüll, die in Deutschland anfielen. Für mich, als Durchschnittsverbraucher also 220,5 Kilogramm Verpackungsmüll, den ich persönlich in einem Jahr angehäuft hatte. Rund um Plastik, den ehemals lässigen Begleiter, zeichnete sich nach und nach ein abstoßendes Bild. Verschmutzte Sandstrände, verendende Meerestiere oder überquellende Mülleimer am Straßenrand. Werfe ich heute meinen Verpackungsmüll in die Tonne, fühlt sich das ganz und gar nicht erleichternd an. Stattdessen blitzt mich aus der Tüte jede einzelne Verpackung anklagend an.
Der Griff zur Plastiktüte war mal leicht und unbedacht. Heute ist er mit Zögern verbunden, mit Schuldbewusstsein, sogar mit Scham. Auch mit der Frage, ob ich denn nun lieber die regionalen Bio-Tomaten in Plastik oder die unverpackten wählen sollte, die jedoch mit dem Flugzeug aus Marokko importiert wurden. Ob ich nun nicht doch lieber die Plastikflasche statt der Glasflasche nehmen soll – weil sich die Debatte um Plastik eben nicht nur um den verursachten Müll drehen kann, sondern auch um die Energiebilanz jedes einzelnen Produktes. Je nachdem, ob ich die Flasche wiederverwende oder recyceln lasse, kann hier die PET-Flasche aus Kunstsstoff im Vergleich sogar die umweltfreundlichere Wahl sein. Plastik bringt mich ins Grübeln, in moralische Dilemmata, getrieben vom schlechten Gewissen in meinem Hinterkopf.
Später, als ich längst einen neuen Alltag hatte und eine neue Umgebung, selbst nur noch mit dem Jutebeutel zum Einkaufen ging, Obst und Gemüse so oft wie möglich unverpackt kaufte, war es mein Lieblingsimbiss um die Ecke, der ganz unverhofft die alten Gefühle wiederaufleben ließ. Thaicurry, warmgehalten in Styropor, umwickelt von ein bis zwei dünnen Plastiktüten. Eine Mahlzeit in einem gut verknoteten Haufen aus Verpackungsmüll – die also all dem widersprach, was ich mittlerweile in meiner Beziehung zu Plastik verinnerlicht hatte. Dennoch war es ein bisschen wärmende, nostalgische Geborgenheit zum Mitnehmen. Nostalgie, dieses tückische Gefühl, das zwar den einzelnen Moment zu umgarnen weiß, doch nicht genügt, damit die Welt in Ordnung bleibt.
So ist dies kein Abschied von Plastik – und daran sind nicht allein mein Lieblingsimbiss und die Bio-Tomaten schuld, die immer noch an ihm festhalten. Da gibt es auch noch die Shampoo-Flaschen in meinem Bad, Teile meiner Turnschuhe, Kopfhörer, Zahnbürsten und das Smartphone. Ein langjähriger Weggefährte lässt sich nicht so leicht ersetzen – aus Gewohnheit, aber auch, weil es gar nicht so einfach ist, eine Alternative zu finden. Eine seiner bekanntesten, das Bioplastik, findet man vor allem in Form von Biomülltüten im Alltag deutscher Verbraucher. Allerdings protestieren Entsorger und Recyclingexperten: Bioplastik sei zwar kompostierbar, doch lässt es sich in der Entsorgung schwer von herkömmlichen Plastiktüten trennen; wird so weder recycelt noch zersetzt. Noch dazu versteckt sich der Kunststoff ja in weit mehr Produkten, als es auf den ersten Blick erkennbar wäre – also nicht nur in der Zahnbürste, sondern auch in der Zahnpasta, als Mikroplastik. Es fehlt noch viel, um sich endgültig von Plastik verabschieden zu können, doch es ist mittlerweile gesellschaftlicher Konsens, dass genau das passieren muss.
Dies kann also gar kein Abschied von Plastik sein, jedoch ein Abschied von dem Gefühl, das Plastik all die Jahre umgab. Hier ging es mal um Fortschritt, um eine Generation, die irgendwann dachte, wer mit Mittagessen zum Mitnehmen ins nächste Meeting hetzt, spart wertvolle Minuten und lebt effizienter. Die eine Wegwerfgesellschaft nicht als verwerflich betrachtete, sondern als Erleichterung, als den wohlverdienten Luxus einer entwickelten Moderne. Symbol dieser Lebenseinstellung wurde vielleicht der Coffee-To-Go: Im Einwegbecher ließ sich der Genuss mit auf den Weg nehmen, er vereinte das Schöne mit dem Nützlichen – und landete später unbeschwert im Mülleimer.
Ich durfte Kind sein in dieser Hochphase des Plastik, als Überfluss nicht nur kostengünstig war, sondern auch mit einer Lebensphilosophie einherging, die stets nach mehr strebte. Plastik war Teil eines Aufschwungs, dem Wunsch nach einem möglichst sorglosen Alltag. Plastik machte es einer Generation leicht, gegen Prüderie und Sparsamkeit ihrer Eltern, der Nachkriegsgeneration zu rebellieren. Wozu alte Spitzenläufer bügeln, wenn sich die Plastiktischdecke nach einem Mal ganz leicht entsorgen lässt?
Heute ist das anders. Stellen wir uns einen 15-Jährigen vor, der aus Überzeugung mit dem Fahrrad zur Schule fährt, anstatt ins SUV seiner Eltern zu steigen, der jeden Freitag für das Klima und seine Zukunft auf die Straße geht. Seine Generation muss nicht mehr nach Effizienz streben, sie will es auch nicht. Sie möchte Lebensqualität zurückgewinnen, indem ihr alltäglicher Kaffee kein Wegwerfprodukt ist, sondern gemütlicher Genuss, im Sitzen. Für mich, aufgewachsen in einer Welt aus Plastik, mag sich all das noch wie ein Abschied anfühlen. Für eine Generation, die in dem Bewusstsein groß wird, Plastik als Feind ihrer Umwelt zu sehen – für diese Generation wird jene Antipathie hoffentlich selbstverständlich sein.