Letzte Hoffnung Tipp-Ex

Wie ein verschwunden geglaubter Büroartikel dabei helfen könnte, all die Fehler der vergangenen Jahre rückgängig zu machen.

Nun wollen wir uns mit folgendem Phänomen auseinandersetzen.

In The Atlantic las ich einen Text mit der Überschrift Who Still Buys Wite-Out, and Why?, wobei: Wite-Out ist das amerikanische Pendant zu Tipp-Ex. So dass man übersetzen kann: Wer kauft noch Tipp-Ex und warum?

Die Wahrheit ist, dass der Autor des Artikels das auch nicht weiß. Mit ein paar Verbesserungen handgeschriebener Weihnachtskarten ist ja nicht die Tatsache zu erklären, dass der Verkauf von Korrekturflüssigkeiten von 2017 auf 2018 um ein Prozent zunahm. Normalerweise müsste ein solches Produkt in Zeiten des papierlosen Büros verschwunden sein – wie die Schreibmaschine auch. Ja, eigentlich hätte ich gedacht, es bestünde die Notwendigkeit, jüngeren Leuten umständlich zu erklären, was Tipp-Ex überhaupt ist! Dass es in seinen Anfängen nicht flüssig war, sondern ein Papierstreifen. Wenn man mit der Maschine auf Papier ein Wort flasch geschrieben hatte, konnte man mit dem Streifen l und a löschen, stattdessen a und l tippen – schon stand da falsch statt flasch. Das war in den Sechzigerjahren eine Revolution! Weil man nämlich vorher das Papier aus der Maschine reißen, in einem Tobsuchtsanfall zerknüllen und alles neu schreiben umstse, pardon, musste. Heute haben wir eine Löschtaste im Computer.

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Man muss aber Tipp-Ex nicht erklären. Jeder kennt es. Tipp-Ex behauptet auf einer Liste der weltweit bekanntesten deutschen Markennamen Rang zehn. Es steht für eine ganze Produktgattung wie ­Tempo für Papier­taschentücher. Tipp-Ex wird heute mit einem ­kleinen Pinsel aufgetragen oder einer Art Roller.

Aber warum, immer noch?

Ja, natürlich gibt es weiter in Büros Papier, auf dem korrigiert werden muss. Schüler benutzen Tipp-Ex, um Hausarbeiten unauffällig zu verbessern. Es gibt Künstler, die den Stoff als Farbe nehmen. Und da ist die Hamburger Polizei, die mit so vorsintflutlicher Technik ausgestattet ist, dass sie für einen Parlamentsausschuss, der die Krawalle um den G-20-Gipfel untersuchte, eine Million DIN-A4-Blätter kopieren musste. Auf den Papieren mussten viele Angaben aus Datenschutz- und Geheimhaltungsgründen unleserlich gemacht werden, mit Edding – und womit noch?

Klar.

Aber bei allem Respekt vor der Hamburger Polizei: Das reicht nicht für eine Weltmarke.

Wir müssen uns auf das Magische des Vorgangs besinnen. Ein Fehler wird aus der Welt geschafft – und zwar aus der realen, physisch berührbaren Welt. Das ist etwas anderes als digitales Löschen. Es ist tatsächlich ein Rückgängigmachen, das Falsche wird durch das Richtige ersetzt und ist nun einfach nicht mehr da. Der Lauf der Welt hat sich verändert. Tipp-Ex greift ins Leben ein.

Vor einigen Jahren gab es einen Internet-Werbespot für das Zeug unter dem Titel A Hunter Shoots A Bear. Da wird ein Jäger von einem Bären bedroht, er müsste auf das Tier schießen, aber er tut es nicht. Warum? Weil er es nicht will. Also greift er aus dem Bild heraus, holt aus einer Anzeige nebenan ein Tipp-Ex, macht damit das Wort Shoots unleserlich, so dass handschriftlich etwas anderes erscheinen kann. Man liest plötzlich, zum Beispiel: A Hunter Dances With A Bear. Und so geschieht es auch.

Wissen Sie, was ich glaube? Irgendjemand hortet gigantische Tipp-Ex-Vorräte, weil er damit die Welt verändern will. Dieser Mensch will große Fehler der vergangenen Jahre rückgängig machen. Das wird wie von Zauberhand geschehen! In den Geschichtsbüchern steht: Großbritannien verlässt die EU? Plötzlich werden wir lesen: Groß­britannien liebt die EU. In den Annalen ist verzeichnet: Trump bereitet erneute Kandidatur vor? Eines Morgens heißt es überall: Trump sieht ein: Ich bin unfähig. Reine Magie, einerseits. Andererseits muss ­irgendjemand wirklich Hektoliter von dem Zeug haben.

Meine letzte Hoffnung heißt zurzeit Tipp-Ex.