Der ewige Brexit

Unser Autor stellt fest: Bedenkt man die Geschichte Großbritanniens, wird klar, dass der Brexit noch Jahrhunderte dauern wird.

Illustration: Dirk Schmidt

Ein Problem beim Brexit-Thema ist, dass Europäer, die Nichtbriten sind, keine Ahnung von wirklich großen historischen Dimensionen haben. Die EU wurde 1993 mit dem Vertrag von Maastricht gegründet. Ihre Geschichte geht maximal auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zurück, die seit 1957 bestand.

Das Königreich Großbritannien existiert seit 1707. Damals schlossen sich England und Schottland zusammen, wobei es das engli­sche Königreich schon seit 927 gibt. Hier ist aber zu erwähnen, dass als erster König von England der 802 gekrönte und 839 verstorbene Egbert von Wessex in den Listen geführt wird. Er war mithin König von England, obwohl es eigentlich zu seiner Zeit noch gar kein englisches Königreich gab.

Das ist ein Umstand, den zu verstehen Nichtbriten schon unmöglich ist: Man hatte dort Könige von nichtexistenten Königreichen! Um das kurz zu vertiefen: Das Königreich Wessex, dem Egbert vorstand, gibt es seit 927 nicht mehr, wohl aber gab es mal – dies aber nur in den Jahren 1020 bis 1066 – einen Earl of Wessex. Der vorerst letzte Träger dieses Titels war König Harald II., der in der Schlacht von Hastings 1066 ums Leben kam. Aber – und nun wird es wirklich interessant: Königin Elisabeth II. verlieh 1999 ihrem jüngsten Sohn, Prinz Edward, anlässlich dessen Hochzeit mit Sophie Rhys-Jones den Titel eines Earl (also eines Grafen) von Wessex, obwohl eine Grafschaft Wessex seit dem 11. Jahrhundert, wie gesagt, nicht mehr vorhanden ist oder sagen wir so: Es gibt sie schon, aber nur in den Romanen von Thomas Hardy, dessen Grab man in Westminster Abbey findet. Man kann in England ganz offiziell Oberhaupt eines fiktiven, nur in der Literatur und der Geschichte existierenden Ortes sein.

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Man sollte das wissen, wenn man diese ­Brexit-Sache verstehen will. Ich will hier nicht auf das Reichsbürgertum zu sprechen kommen, das ist zu banal und dumm. Aber wenn man nach einem Vergleich in Deutschland sucht, dann müsste man – und zwar wirklich von Amts wegen – einen Landrat von Kessin in Hinterpommern wählen, wobei zu wissen ist: Kessin ist der (nur in der Fantasie existierende) Ort, in dem Fontanes Roman Effi Briest spielt. Und Hinterpommern liegt heute in Polen, also in Europa.

Lange Zeiträume: Prinz Charles, 1948 zur Welt gekommen, wartet seit 1952 (als seine Mutter Königin wurde) auf die Thronbesteigung, wobei er mit vier Jahren wohl noch nicht wartete, aber seit einer Weile vielleicht doch. Es ist, als ob seit 67 Jahren klar wäre, dass Marius Müller-Westernhagen (geboren 1948) eines Tages Bundespräsident würde – aber wann? Oder bedenken wir, dass der Speaker des Unterhauses in den Debatten auf eine Bestimmung von 1604 zurückgriff. Stellen wir uns vor, Wolfgang Schäuble würde im Bundestag eine Abstimmung mit einer Vorschrift des Reichsdeputationstages 1564 in Worms regeln!

Dies alles bedenkend, sollten wir uns darauf einstellen, dass der Brexit Jahrhunderte dauern wird. Niemand von uns wird ihn erleben. Eines Tages, vielleicht erst im Jahr 2863, wird ein britischer König seinen Sohn zum Earl of Brexit ernennen! Vielleicht wird dieser König Charles heißen und gerade seinen 915. Geburtstag gefeiert haben.

Mein Vorschlag wäre, zunächst die Präambel des Maastricht-Vertrags folgendermaßen umzuformulieren: »Die Europäische Union ist eine Organisation zum Zwecke des Austritts Großbritanniens.« Reden wir nicht drum herum: Die Sache hat sich als so kompliziert erwiesen, dass die EU sich mit nichts anderem mehr beschäftigen kann. Man muss das einsehen. Zur Regelung der großen Probleme unserer Zeit gründen wir einfach was Neues, das geht schneller, selbst in diesen Zeiten. Vom Beginn der Verhandlungen des Maastricht-Vertrags bis zu dessen Inkraft­treten dauerte es knapp zwei Jahre. Seit der Abstimmung über den Brexit sind fast drei vergangen, also bitte …