Ich soll den Fragebogen einer Zeitschrift beantworten. »Mit welchem journalistischen Angebot starten Sie in den Tag?«, steht da. Was ist das für eine Frage? Ich bin keine Maschine, in der man morgens den Zündschlüssel dreht. Ich bin kein Athlet, der aus dem Startblock hinaus in den Tag schnellt wie in einen Hundert-Meter-Lauf. Was führen Leute, die solche Fragen stellen, für ein Leben?! Was soll ein Leben für einen Sinn haben, in dem man mit einem »journalistischen Angebot« in den Tag »startet«?
Ich sitze morgens am Küchentisch, starre die Uhr an, überlege: wenn ich die Macht hätte, jetzt alle Uhren der Welt für eine Viertelstunde anzuhalten… wie eine Auszeit im Basketball. Man könnte 15 Minuten lang etwas tun, ohne dass es von der Lebenszeit abgezogen wird. Warum gibt es diese Möglichkeit nicht? Warum wird man schon morgens mit so was Unerbittlichem konfrontiert wie der Zeit? Dann schaue ich aus dem Fenster: ob es schneit. Dann lese ich die Außentemperatur vom Thermometer ab. Dann brühe ich mir einen chinesischen Gesundheitstee auf, den mir der Arzt gegen meine Magenprobleme verschrieben hat. Dann lese ich den Sportteil.
Neulich traf ich eine Schulfreundin, die ich vierzig Jahre nicht gesehen hatte. Überraschend stand sie vor mir. Ich erkannte sie sofort; doch das Mädchengesicht hatte sich in Sekunden in das Gesicht einer nicht mehr jungen Frau verwandelt, ohne Zwischenstationen. Sie war nie ein Mensch gewesen, der sonderlich viel Wert auf sein Äußeres legte, das intensivierte das Erlebnis noch, grau waren ihre Haare, müde ihr Blick. Vierzig Jahre, in einem Augenblick dahin.
Ich räume mein Büro auf. Immer Anfang des Jahres räume ich mein Büro auf. Ich stelze zwischen Papierhaufen und Bücherstapeln herum. Ich muss Dinge wegwerfen, auch Bücher, es hat keinen Sinn, da liegt zu viel, das nur belastet, Staub aufnimmt, nie mehr gelesen wird.
Warum gibt es keine Abwrackprämie für neun Jahre alte Bücher? Warum kann ich nicht das Werk Porträt Heimat – Erzählte Landschaften der Papierpresse anvertrauen, Geld dafür kassieren und damit den Buchmarkt ankurbeln? Warum gibt es so was immer nur für Autos, nie für andere Branchen? (Für Kühlschränke?, fragt eine vertraut-verstörte Stimme aus der Küche.)
Fünf Minuten sitze ich vor jedem Buch und grüble. Porträt Heimat – Erzählte Landschaften – was soll ich mit dir tun? Meine alte Freundin M. schleicht sich mit wegzuwerfenden Büchern nachts zum Papiercontainer, denn sie ist in der Verlagsbranche tätig und wünscht nicht beim Wegwerfen von Büchern gesehen zu werden. S., der Kollege, wickelt jedes einzelne Buch in Zeitungspapier, bevor er es wegwirft, der Selbsttäuschung halber und auch, damit es ihn nicht vorwurfsvoll ansieht beim Entsorgen.
Groß im Trend: die superorganisierten Effizienz-Kanonen überall. Ursula von der Leyen. Rachida Dati, die französische Justizministerin, die fünf Tage nach der Geburt ihres Kindes im Büro aufkreuzte. Barack Obama, der in zweieinhalb Wochen mehr Entscheidungen traf als andere im ganzen Leben. Tempo!
Der Fußball in Hoffenheim und München wird schneller, die Skifahrer ebenfalls, auch hat man das Gefühl, dass in Filmen viel mehr passiert als vor zwanzig Jahren. Und die Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Zusammenbruchs – Kompliment! Die Welt zerfällt immer mehr in jene, die lässig in exakt getaktete Tage starten, auf der Zeitwelle surfende Hochgeschwindigkeitsmenschen – und das Publikum, das zuschaut, atemlos (obwohl es viel weniger tut) der Frage gegenüberstehend: Warum bist du nicht so? Warum so langsam?
Nur der Teilchenbeschleuniger in Genf macht nicht mit, er hängt immer noch kaputt herum, kein einziges Teilchen ist bisher gestartet, er gefällt mir immer mehr, ein Beschleuniger, der nichts beschleunigt, er kann sich wohl nicht entscheiden, scheint einer von uns zu sein, ein Grübler.
Illustration: Dirk Schmidt