In der Zeitung las ich etwas über Spezialhunde, die eine menschliche Spur über viele Kilometer verfolgen können, dies noch eine Woche, nachdem der Mensch diesen Weg gegangen ist, mitten in der Stadt, wo Tausende anderer Menschen ähnliche Wege gingen. (Solche Hunde gelangten zum Einsatz, als man in München die Leiche eines Babys in einem Müllsack fand und dann die Mutter suchte.) Auf die Frage, wie eine derart staunenswerte Leistung möglich sei, erklärte die Besitzerin eines solchen Hundes, jeder Mensch verliere pro Stunde etwa 40 000 winzigster Hautschuppen. Der Geruch der Schuppen weise dem Tier die Fährte.
Eine solche Nachricht lässt mich offenen Mundes zurück: 40 000 Hautschuppen! Pro Stunde! Jeder von uns! Gerade habe ich begonnen, den Roman Unendlicher Spaß von David Foster Wallace zu lesen. Das Buch hat 1545 Seiten. Wenn ich jeden Tag 50 davon lese, werde ich einen Monat für die Lektüre benötigen, und in diesem Monat, habe ich errechnet, werden fast 30 Millionen Hautschuppen von mir abgefallen sein. Mein Lesesessel müsste in einem Hautschuppenhaufen stehen, wo bleibt eigentlich dieses ganze Zeug? Was wird von mir noch übrig sein, nach dem Buch? Wie ist es möglich, dass wir uns unsere Wege nicht immerzu durch knietiefen Hautstaub bahnen müssen? Dass nach Regenfällen nicht Schuppenschlamm die Straßen bedeckt? Oder sind die Herbstnebel nichts als durch die Atmosphäre wabernder Hautstaub?
Ich kann nichts anderes mehr denken: dass von mir beständig Partikel abfallen, dass ich Schuppen schwitze, langsam zerbrösele, zu einem Mehlhaufen werde. Dass mein Inneres nichts ist als eine leise ratternde Hautfabrik.
Eine Nachricht aus der globalisierten Welt. Im Südwesten Londons regen sich Bürger über den Lärm auf, den Tausende von Halsbandsittichen
in den dortigen Parks machen, ein laut lärmendes Kreischen. Keiner weiß, woher die Vögel stammen: Haben sie einst dem in der Gegend ansässigen Jimi Hendrix gehört, nach dessen Tod sie jemand freiließ? Sind sie den Beständen einer Filmproduktion entflohen, die vor längerer Zeit über größere Sittichmengen verfügte? Man rätselt. Und staunte im vergangenen Winter über einen bunten Sittichschwarm, der auf einem zugefrorenen Teich nach einem Wasserloch suchte, stolpernd, rutschend, flatternd …
Aber der Lärm! Die Vögel gehören nicht hierher, sagen die Leute. Sie stammen aus dem Himalaja, sagen andere, sind so britisch wie Curry, nicht mal die Platanen, in denen sie nisten, sind ursprünglich britische Bäume. Und wer gehört schon nach London? Die Stadt wird bewohnt von Leuten, die im Grunde genommen nicht dorthin gehören.
Wer gehört schon dorthin, wo er lebt? Ich bin in Braunschweig geboren und lärme in München herum.
Übrigens: Aus der Metropole Südostniedersachsens wird gemeldet, im dortigen Naturhistorischen Museum habe eine einzigartige Dinosaurierausstellung begonnen: Braunschweiger Forscher hätten in Afrika eine bis dato unbekannte Saurierart entdeckt, Spinophorosaurus nigerensis, »die stacheltragende Echse aus Niger«, deren Knochen nun staunenden Südostniedersachsen gezeigt werden.
Londoner! Warum klagt ihr über die Sittiche? Warum seid ihr nicht froh, dass es nur bunte Vögel sind, die eure Parks durchschwirren? Freut euch, dass nicht Spinophorosaurus nigerensis eure Rhododendrenpflanzungen zerstampft (während in Braunschweig kleine Sittichskelette ausgestellt sind). Dass er ausgestorben ist. Dass nicht die Hautschuppenfahne, die ein solches Vieh zweifellos hinter sich her zog, die Jagdhunde der Queen erstickt. Vieles in dieser oft rätselhaft erscheinenden Welt ist doch gut gefügt, isn’t it? Wie großartig ist unser Dasein eingerichtet! Allein, dass es einem Wesen wie mir gelingt, mit dem, was hier steht, eine Familie zu ernähren …
Ich empfinde Dankbarkeit.
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Um den Verlust von Hautschuppen zu stoppen, überlegt Axel Hacke, sich komplett eingipsen zu lassen. Übrigens, in Gips gehüllt gelangten auch die Saurierknochen aus Afrika nach Braunschweig.
Dirk Schmidt (Illustration)