John Irving hat wieder einen Roman geschrieben, Letzte Nacht in Twisted River. Im Spiegel hat Irving erklärt, wie er einen solchen Roman beginnt: Er müsse zuerst den letzten Satz kennen, den sehe er beim Arbeiten vor sich, es gehe ihm wie mit einem Refrain in einem guten Song, »du bewegst dich darauf zu, du weißt, dass der Refrain kommt, und dieses Wissen gibt dir Selbstvertrauen«.
Ich arbeite beim Verfassen von Kolumnen nach einem ähnlichen Prinzip, doch anders als Irving orientiere ich mich weniger an der Musik, eher an den Naturwissenschaften und dem britischen Physiker Len Fisher, der nie einen Roman geschrieben hat, nur Sachbücher. Fisher ist mit einer Arbeit über die Eintunkzeit von Keksen hervorgetreten. Er geht dort der einen Briten besonders bewegenden Frage nach: »Welche Dramen spielen sich im Inneren eines Kekses ab, wenn die Teeflut hereinbricht?« Und untersucht das System von Löchern, Höhlen und Kanälen in britischen Keksen. Er fragt sich, warum nie mehr als vier von fünf Keksen das Eintunken überleben, während der fünfte vollgesogen in die Tiefe der Tasse sackt, und kommt zu dem hier nicht näher erläuterbaren Ergebnis, dass der ideale Eintunkkeks erstens von Schokolade überzogen zu sein hat, und dass man ihn zweitens horizontal in den Tee schieben muss, Schokolade oben. Jetzt hat Len Fisher ein Buch namens Schwarmintelligenz geschrieben. Es wird im August auf Deutsch herauskommen, beschäftigt sich mit den erstaunlichen Fähigkeiten von Vogelschwärmen oder Ameisenkolonien und vergleicht sie mit dem Leben der Menschen.
Nebenbei habe ich bei der Lektüre verstanden, wie ich eine Kolumne schreibe. Anders als Irving, der das mit seinen Romanen immer gewusst hat, ahnte ich das bisher nie. Fisher beschreibt zum Beispiel, wie sich ein Bienenschwarm orientiert und den Weg noch zu jeder Blumenwiese gefunden hat. Fast jeder weiß, dass einzelne Kundschafter-Bienen anderen durch einen Schwänzeltanz Richtung und Entfernung zum Ziel verraten. Bloß können beileibe nie alle Bienen des Schwarms im Stock diesen Tanz sehen; es lernen nur einige Bienen das Ziel kennen.
Wenn der Schwarm aufbricht, fliegen aber die gut informierten Bienen keineswegs an dessen Spitze, sondern mittendrin. Trotzdem geben sie die Richtung vor, indem sie schneller fliegen als die anderen - und in die richtige Richtung. Automatisch schließen sich die weniger gut Bescheid wissenden, deshalb nie so zügig voransummenden Bienen in einer Kettenreaktion an, ein Phänomen, das man gut auch bei Menschen beobachtet hat. Eine kleine Gruppe von Menschen kann eine große ohne Weiteres führen, ohne dass sie sich als Führung zu erkennen gibt, einfach, indem sie weiß, was sie will - und der Rest weiß es nicht.
Interessanterweise funktioniert nun ein Text wie dieser genau wie ein Bienenschwarm, was auch logisch ist, denn eine Kolumne ist nie was anderes als ein Schwarm von Wörtern, der ans Ende der Seite will, wobei der Sprachschwarm manchmal harmlos ist wie Honigsucher, bisweilen aber bedrohlich wie Killerbienen. Oder wie der weltvernichtende Schwarm in Frank Schätzings Epos, jaaaa Na, keine Angst, der Text hier will nur spielen. Was wird sein letztes Wort sein? Ich verrate es: Roman.
»Roman« ist die Blumenwiese dieses Wörterschwarms, seine Nektarquelle. Welches aber sind die Kundschafterwörter, die per Schwänzeltanz den anderen Wörtern dieses Ziel bekannt gegeben haben? Es sind die Wörter »einen« und »geschrieben«, die in Zeile eins »Roman« ausbaldowert haben; sie stehen deshalb unauffällig direkt daneben. Wenn Sie noch einmal nachlesen, werden Sie sehen, dass am Ende des zweiten Absatzes »einen« und »geschrieben« noch einmal das Wort »Roman« schwänzelnd vorführen, quasi vortanzen, dass hier aber vor und hinter »einen« und »geschrieben« nun die Wörter »nie« und »hat« auftauchen.
Das sind die beiden, die dem ganzen Wörterschwarm im Folgenden den Weg zum Ziel zeigen, immer wieder kurz sichtbar, zügig Richtung Schluss fliegend, sodass ein Autor wie ich letztlich nicht seiner eigenen Intelligenz folgt, sondern den Gesetzen der in seinem Kopf befindlichen, sich selbst auf zauberhafte Weise organisierenden Wörterschwärme. Was wollte ich noch sagen? Ach ja: Roman.
Illustration: Dirk Schmidt