Nach dem Ende der Fußballweltmeisterschaft ist es reizvoll, noch mal die Artikel zu lesen, die während der Fußballweltmeisterschaft geschrieben wurden, beim Ausscheiden Eng- und Griechenlands, Frankreichs, Italiens und Dänemarks zum Beispiel. Wie der fußballerische Untergang Europas beschworen wurde, der dem politischen entspreche! Wie also die Ermüdung Kerneuropas auf allen Feldern konstatiert wurde. Es sei doch, war zu lesen, hochinteressant, wie Politik und Sport sich entsprächen, wie mit dem Weiterkommen Para- und Uruguays, Argentiniens, Brasiliens, der Südamerikaner also, sichtbar werde, wo man nun die Musik und großen Fußball spiele, nicht wahr?
Nicht wahr, nein. Wenige Tage später waren fast alle Südamerikaner daheim,
Weltmeister wurden die Spanier, die Niederländer Zweite, die Deutschen begeisterten uns als Dritte, und die Artikelschreiber sahen sich vor dem Rätsel, wie es sein könne, dass der quasi gestorbene Kontinent Europa eine Blüte allermodernsten Fußballs hervorzubringen in der Lage sei. Die daraus entstandenen Texte werden wir vor der WM 2014 lesen. Übrigens wagt man nicht, sich vorzustellen, wie es wäre, die Europäische Gemeinschaft würde mit einer Elf bei den Weltmeisterschaften starten, Robben, Ronaldo, Rooney, Ramos, Reinsteiger, Rodolski, alle zusammen. Und wir dann begeistert mit den europäischen Farben im Gesicht – wie waren die noch gleich?
Was aber geschieht nun mit uns? Woher werden die Gefühlsschübe kommen, derer wir so dringend bedürfen? Bereits wird der Kanzlerin geraten, sie solle ihre Politik emotionalisieren, sie müsse weg von der physikalischen Betrachtungsweise ihrer Arbeit. Weg von der schrecklichen Nüchternheit! Weg vom Unbegeisterten – und wohin? Zum Bedürfnis der Menschen nach Theater, Unterhaltung, Witz. »Vielleicht«, hat der Sportphilosoph Gebauer gesagt, »sollten Angela Merkel und ihr Kabinett auch mal einen Kreis bilden und sich einschwören auf gemeinsame Aufgaben.«
Einen Kreis, wie ihn die Nationalmannschaft bei der WM vor jedem Spiel bildete?
Jawoll, so einen Kreis.
Jedoch, bitte, Emotionen sind ein gefährliches Feld. Ich denke an den einstigen britischen Premier Brown, der ruiniert war, als bekannt wurde, dass er Mitarbeiter während cholerischer Ausbrüche mit Telefonen bewarf, Sekretärinnen von ihren Stühlen kippte und – als Besuch einiger Botschafter anstand – die Frage stellte: »Warum zwingt ihr mich, diese Scheißer zu empfangen?« Oder wünschen wir uns (um beim Fußball zu bleiben) von der Kanzlerin eine Wut-Scheiße-Käse-
Rede wie von Rudi Völler? Eine Habe-fertig-Predigt wie von Giovanni Trapattoni? All diese Leute traten bald von den Ämtern zurück oder verloren sie …
Man stellt sich nun vor, wie die Kanzlerin in einem unterirdischen Labor mit Emotionen experimentiert. Wie sie nach geheimen, von ihrem Mann, dem Chemiker, zusammengestellten Gefühlsformeln Rührseligkeit und Humor, Charme und Sentimentalität in Töpfe rührt und gelegentlich mit zerzaustem Haar und schwarzem Gesicht in ihrem Büro erscheint, weil eine Überdosis Zorn über dem Bunsenbrenner explodiert ist. Wie sie dann wieder vor Lachen am Boden liegt, nachdem ihr ein Witz um die Ohren flog.
(Erinnert sich übrigens jemand an den Monty-Python-Film, in dem Deutschland im Weltkrieg mit dem lustigsten Witz aller Zeiten besiegt wurde? Da gehen die englischen Soldaten über die Schlachtfelder und lesen den deutschen Soldaten einen Witz vor, der so gut ist, dass der Feind vor Lachen tot zusammenbricht – die Briten aber sind immun dagegen, weil sie den Witz ja auf Deutsch vortragen und deshalb nicht verstehen.)
Ich wette, wenn Angela Merkel plötzlich emotional würde, würfen die gleichen Autoren ihr in Kürze vor, sie wirke irgendwie unnatürlich und das Wichtigste in der Politik sei doch, dass man authentisch bleibe und nichts irgendwie Aufgesetztes tue, das möchten die Leute nicht. Frau Merkel, würden wir lesen, solle sich ein Beispiel an Jogi Löw nehmen, der sei auch nicht besonders witzig und wirke eher nüchtern. Er habe seine Leute einfach guten Fußball spielen lassen.
Illustration: Dirk Schmidt