Ich habe eine neue Zahnbürste. Sie ist elektrisch und putzt zwei Minuten lang meine Zähne, dann schaltet sie sich ab. Da ich mir zweimal am Tag die Zähne reinige, arbeitet die Bürste vier Minuten pro Tag. Im Jahr sind das 24 Stunden, und wenn ein Mensch im Laufe seines Lebens 75 Jahre lang täglich so eine Zahnbürste benutzt, wird er am Ende auf 75 Tage Zähneputzen zurückblicken.
75 Tage, an denen er sich ununterbrochen, Tag und Nacht, die Zähne schrubbte. 75 Tage, in denen er hätte Bücher lesen, mit seiner Frau schlafen, mit den Kindern spielen, mit Freunden lachen können – aber nein, er putzte Zähne! Er musste es tun, wollte er nicht mit verrottenden, schmerzenden braunen Stümpfen im Mund weiches Brot mümmeln. Es war wichtig, sich die Zähne zu putzen. Aber 75 Tage lang …
Vor Kurzem stand in der Zeitung, nordrhein-westfälische Polizisten hätten vor dem Verwaltungsgericht Münster ein Urteil erstritten, demzufolge jene Viertelstunde am Tag, in der sie ihre Uniformen an- und ablegen, zur Dienstzeit gehört. Hat das Urteil in nächster Instanz Bestand, wird ein Polizist etwa ein halbes Jahr früher als bisher in den Ruhestand gehen können, ein Umstand, der mich überlegen lässt, ob nicht auch die Zahnpflegezeit eines Kolumnisten bezahlt werden müsste. Denn von ihm werden bissige, knackige Texte erwartet, die aber den Leser auch lächeln lassen. Wie aber soll der Autor beißen, knacken, lächeln, wenn in seinem Kolumnistenmaul die Karies wütet?!
Interessant wäre doch: mal alles gesammelt vor sich zu sehen, was sich im eigenen Leben abgespielt hat, ganz materiell: alle Zeitungen, die man gelesen hat; alle Blumensträuße, die man kaufte; alle Hemden, die man trug; alle Biere, die man soff; alle Mahlzeiten, die man verzehrte. Man las dieser Tage vom Happy Meal Project der Fotokünstlerin Sally Davies. Die Frau hat, eigenen Angaben zufolge, am 10. April bei McDonald’s einen Hamburger und ein Tütchen Pommes frites gekauft und beides ungegessen in ihrer Wohnung liegen lassen. Sie wollte Veränderungen des Menüs fotografisch dokumentieren, indes gab es keine Veränderungen. Das Happy Meal sieht so aus wie vor sechseinhalb Monaten, kaum Spuren des Verfalls, kein Schimmel, keine Verfärbungen, nur hart ist alles geworden, mit der Fleischscheibe kann man auf den Teller klonken.
Wen dies überrascht, der hat noch nichts von Karen Hanrahan gehört, die behauptet, 1996 einen McDonald’s-Burger erworben zu haben, der noch heute, 14 Jahre später, optisch unverändert ist. Seit 2008 kann man das gute Stück auf der Internetseite bestofmotherearth.com betrachten, angeblich riecht es etwas seltsam, aber Gerüche transportiert das Internet ja nicht, und im Übrigen riechen 14-Jährige oft eigenartig, das legt sich mit 16.
Ernährungswissenschaftler sind über den Prozess der Menümumifizierung nicht verwundert. Fritten und Fleisch seien gut gesalzen, sagt Sean O’Keefe von der Virginia-Tech-Universität, und reich an Fett, beides mache sie haltbar. Außerdem habe man die Ernährungsgegenstände großer Hitze ausgesetzt, das nehme ihnen Feuchtigkeit und töte Bakterien, auch das stehe dem Verrottungsprozess entgegen. Das Fehlen von Nährstoffen tue ein Übriges.
Wie auch immer dem sei: Interessant wäre, wenn die Fast-Food-Industrie hier nebenbei und vielleicht ohne es wirklich zu wollen, unzerstörbares Material entdeckt haben sollte. Man muss sich nur mal vorstellen, nichts in unserer Umge-bung würde vergammeln, alles wäre ewig, die Blätter, die jetzt von den Bäumen fallen zum Beispiel – allein dadurch würde die Erde unbewohnbar. Aber wenn wir jetzt etwas Unsterbliches entdeckt haben: Was hat das für Folgen? Könnten wir Autos bauen, die aus alten Fritten bestehen und auf gedörrten Fleischreifen rollen? Wäre es möglich, in extrem wetterfesten Häusern unter einem Dach aus alten Kartoffelstäbchen zu leben? Und was müsste geschehen, wenn wir doch einmal etwas Neues wollen, wenn wir das alte Auto und das Haus nicht mehr sehen können? Wozu haben wir so gute Zähne? Wir müssten den ganzen Kram einfach aufessen.
Illustration: Dirk Schmidt