Irgendwo las ich die Geschichte von Manuel Segovia, 75 Jahre alt, und Isidro Velazquez, 69, die 500 Meter entfernt voneinander in der Stadt Ayapa in einem mexikanischen Staat mit dem erstaunlichen Namen Tabasco leben. Segovia und Velazquez kennen sich, reden aber nicht miteinander, sie können sich nicht leiden, konnten es noch nie. So was kommt vor, ist aber in ihrem Fall ein Problem. Denn Segovia und Velazquez sind die beiden letzten Menschen, die der Ayapaneco-Sprache mächtig sind. Die gehört zu den aussterbenden Sprachen, sie wird von Sprachforschern wegen ihrer schönen, der Natur entlehnten Ausdrücke gerühmt, »wie ein Truthahn kollern« heißt zum Beispiel auf Ayapanecisch kolo-golo-nay, man spreche das in der Kehle, es ist ein schön-lautmalerischer Ausdruck. So was kann Sprachforscher ja verrückt machen vor Freude.
Doch was nützt eine Sprache, wenn sie nicht gesprochen wird? Es könnte schön sein, wenn sich Segovia und Velazquez jeden Morgen auf einen Kaffee träfen, der eine würde dem anderen fröhlich kolo-golo-nay! zurufen, worauf der andere wie ein Truthahn kollerte. Beide begönnen lachend ein ayapanecisches Gespräch, die umstehenden Sprachforscher kämen aus dem Notieren nicht heraus.
Aber man redet nicht miteinander, weil man dieselbe Sprache spricht, man muss sich auch was zu sagen haben.
Zwei, die Jahrtausende lang voneinander getrennt waren, sich aber sehr ähnlich sind: das rote und das graue Eichhörnchen. Das rote ist kleiner, zarter, weniger robust und lebt in Europa, das graue ein grober Allesfresser, verträgt auch unreife Eicheln und ist in Amerika ansässig, wo man – zum Beispiel in Kentucky – sein Hirn mit Rührei isst.
Vor mehr als hundert Jahren aber kamen per Schiff graue Hörnchen nach Großbritannien, mit ihnen die Eichhörnchenpocken, deren Virus graue Eichhörnchen zwar in sich tragen können, gegen die sie aber immun sind. Nicht so das rote Eichhörnchen, dessen Zahl von vielen Millionen auf etwa 120 000 schrumpfte – und die leben nur noch im Norden, in Schottland. 1970 wurde das letzte rote Eichhörnchen in einer britischen Stadt gesehen.
Aber das rote Hörnchen ist nicht irgendein Tier für die Briten, es gehört zur Geschichte des Landes und des Landlebens. Hat nicht Beatrix Potter vor mehr als hundert Jahren die Geschichte des Eichhörnchens Nusper geschrieben? Gibt es nicht von Axel Scheffler dieses seltsame Büchlein über die Haltung britischer Eichhörnchen (er illustrierte eine Zähmungsanweisung aus den Anfängen des vorigen Jahrhunderts)? Erst kürzlich hat Prinz Charles erzählt, in Birkhall, dem früheren Schloss der Queen Mum und jetzigen Sommersitz von Charles und Camilla, kämen Eichhörnchen heute noch bis in die Küche. Er träume, mit ihnen am Frühstückstisch zu sitzen, eines auf seiner Schulter.
Charles hat jetzt zur »Schlacht« gegen die Grauhörnchen aufgerufen, die nicht nur die roten Verwandten vertreiben, sondern in ihrer Gefräßigkeit und Vermehrungswut auch dem Wald bis zu dessen Zerstörung zusetzen. Das rote Hörnchen, sagte Charles, sei ein »Nationalmaskottchen«, der Kampf für sein Leben von großer Symbolik.
Dieser Charles rührt einen immer wieder. Dass einer, der selbst mit dem Ab- und Aussterben beruflicher Grundlagen zu tun hat, ausgerechnet zur Schlacht ums rote Eichhörnchen aufruft – großartig! Der Mann ist in seiner unreflektierten Verwöhntheit ja bisweilen furchtbar, andererseits bedenke man, wie viel Kraft es braucht, um Eltern wie Elizabeth/Philip zu überleben. Ist es nicht eine schöne Vorstellung: dass der Mann Frieden findet, Camilla am linken Ohr knabbernd, ein rotes Eichhörnchen am rechten?
Segovia, Velazquez und das Ayapanecische. Graue, rote Eichhörnchen und die Monarchie. Überall haben wir es heute bis in Details mit Verschwinden, Zerstörung, Verlust zu tun. Vom Klimawandel bis Fukushima handeln die großen und dazwischen die kleinen Geschichten unserer Zeit von der Zerbrechlichkeit der Welt. Daran wird es wohl liegen, dass uns das jetzt anstehende Fest in London so freut: weil es da im Großen um Beständigkeit geht und im Kleinen darum, dass sich zwei bis ans Ende ihrer Tage etwas zu sagen haben, na ja, hoffentlich, hoffentlich.
Illustration: Dirk Schmidt