Durch Zufall fiel mir ein kleiner und schon etwas älterer Artikel über den Eingeweidefisch Carapus in die Hände, ein aalartiges, schuppenloses und mehrere Zentimeter langes Tier, das seine Behausung für gewöhnlich im Enddarm von Seegurken findet – eine Existenzform von so rarer Seltsamkeit, dass sie einem den Glauben an Gott wiedergeben könnte: Wer solche Einfälle hat, ist einfach ein Großer.
Der Eingeweidefisch ist ein ausgesprochen schutzloses Tier, dem ozeanischen Geschehen und insbesondere Raubfischen wehrlos ausgeliefert. Nur im Rektum einer Meeresgurke findet er Schutz vor den Unbilden der See, mit der Schwanzflosse zuerst schlüpft er hinein und betrachtet, schüchtern aus dem Gurkenhintern hervorlugend, die Welt. (Das Verdauungsgeschehen bei Seegurken wollen wir uns vorsichtshalber als unspektakulär vorstellen.)
Übrigens ist die Entsprechung des Eingeweidefischs im Menschlichen nicht der Arschkriecher, der morgens bei Dienstbeginn die Kaldaunen seines Vorgesetzten aufsucht, um dort bis zum Klang des Feierabendgongs zu verweilen. Denn im Unterschied zu diesem hat Carapus keine Wahl, er muss die Seegurke aufsuchen, will er leben und nicht Tintenfischfutter werden. Wir müssen uns den Eingeweidefisch als netten Kerl vorstellen.
Aber dazu mehr an einem anderen Tag.
Jedenfalls fühlte ich mich an dieses Wesen erinnert, als ich einen Bericht über das Leben jener sechs Männer las, die in Vorbereitung der großen Menschheitsreise zum Planeten Mars den Flug dorthin simulierten – und zwar in einer Raumschiffnachbildung, welche in einem Moskauer Gewerbegebiet parkte. 17 Monate waren diese Menschen dort eingesperrt, 17 Monate lang spendeten sie täglich Blut und Urin und ließen sich beobachten, absolvierten Tests, lasen, glotzten ins Internet und spielten Guitar Hero, drei Russen, ein Franzose, ein Italiener und ein China-Mann: 17 Monate in kompletter Ereignislosigkeit.
Die Aufgabe war also gewissermaßen die Erkundung der Monotonie, eine Forschungsreise in die Langeweile, welche die Männer tatsächlich unterschiedlich gut ertrugen. Einer zum Beispiel lebte binnen Kurzem in einem 25-Stunden-Tag, das heißt, schon nach einigen Tagen schlief er, wenn die anderen wachten. Ein anderer entwickelte schwere Schlafstörungen. Ein dritter wurde milde depressiv. Alles gut und schön, aber was man sich vor allem fragt: Warum tun Menschen so etwas? Warum lassen sie sich freiwillig anderthalb Jahre lang in eine künstliche Höhle sperren, als wären sie Eingeweidefische? Oder Laborratten.
Klaustrophilie? Sehnsucht nach geschlossenen Räumen?
Man würde das ja noch verstehen, wartete am Ende dieser Reise tatsächlich ein Mars-Besuch. Weltruhm. Oder unermesslicher Reichtum. Wobei hier anzumerken ist, dass noch nie ein Astronaut mit Millionen entlohnt wurde, auch nicht Neil Armstrong, der erste Mann auf dem Mond. Er reiste – man kann das dem Buch Moondust von Andrew Smith entnehmen – bei einem Jahresgehalt von 17 000 Dollar und zum Spesensatz von acht Dollar am Tag in den Orbit, wovon sogar noch etwas abgezogen wurde, denn Armstrong und die anderen benötigten ja keine Hotelzimmer. Die Übernachtungsmöglichkeit stellte die NASA, im Raumschiff Apollo 11.
Man kann also sagen: Wenn dereinst Männer für den Flug zum Mars gesucht werden, wird sich Peer Steinbrück wohl nicht melden.
Aber falls tatsächlich einmal ein anderer seinen Fuß auf den Mars setzt, einer, dessen Namen die Menschheit danach in Stein meißelt, wird man sagen müssen: Er konnte es nur tun, weil vor langer Zeit sechs Unbekannte bereit waren, 17 Monate lang in der Ödnis eines Raumschiffs zu leben, das nicht abhob. Weil man danach besser wusste, wer sich für die Reise eignete und wer nicht.
Natürlich werden diese Männer dann vergessen sein. An den Eingeweidefisch denkt ja auch keiner, außer mir und ein paar Meeresbiologen.
Illustration: Dirk Schmidt