Zu den interessantesten Fähigkeiten des Menschen gehört das Staunen, ja, ich glaube, man kann sagen, das Staunen macht den Menschen erst aus, es ist der Beginn aller Neugier und Philosophie. Könnten wir nicht staunen, würden wir immer noch Beeren sammeln und Fleisch roh aus toten Tieren beißen. Falls wir es bis dahin geschafft hätten.
Kürzlich staunte ich etwa, als ich mitten in einem Artikel über die Ernährung von Fischen den Satz eines Fischernährungsfachmannes (Was man alles werden kann im Leben!) las: »Pflanzen wollen nicht gefressen werden.«
Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Woran merkt man, dass Pflanzen nicht gefressen werden wollen? Sie wehren sich. Wie wehren sich Pflanzen? Sie haben zum Beispiel Dornen. Bitte, es ist peinlich, nie in meinem Leben hat mich die Frage beschäftigt, warum Pflanzen Dornen haben. Ich habe diese Dornen einfach in ihrer Existenz hingenommen, fraglos ihr Dasein akzeptiert. Wie dumpf ist das denn?! Ich muss mein Leben ändern; dieser Fischernährungsfachmann hat mit einem einzigen kurzen Satz aus mir einen anderen gemacht.
Ich begann der Frage des Pflanzenwillens im Internet, in Büchern, im Archiv nachzugehen.
Denn es sind ja nicht nur die Dornen, mit denen Pflanzen sich wehren. Sie bilden auch Gifte. Die Kartoffel ist das beste Beispiel: Alles Grüne am Kartoffelgewächs – Blätter, aber auch Keime und Schalen – ist giftig. Oder die Tabakpflanze. Beginnt eine Raupe an ihr zu fressen, bilden die verletzten Teile einen Alarmstoff, der bis in die Wurzeln wandert, wo von Stund an vermehrt Nikotin gebildet wird und bis in die Blätter zieht, ein schweres Nervengift, das die Raupe, weil auch sie nicht sterben will, veranlasst, sich zu einer anderen Pflanze zu begeben. Jeder andere würde es ihr gleichtun, Helmut Schmidt natürlich ausgenommen.
Was ergibt sich daraus für den Vegetarier? Muss er fürchten, dass ihm der Blumenkohl vom Teller ins Gesicht springt, ängstlich, wütend? Sich der Gabel als Waffe bemächtigend? Nein, der Obst- und Gemüse-Esser sollte nur die Früchte von Pflanzen essen, nicht die Pflanzen selbst. Der Apfel etwa ist vom Apfelbaum selbst zum Verzehr empfohlen, bliebe er nämlich ungegessen neben dem Baum liegen, wäre er nutzlos; Apfelbäume geben Stoffe in den Boden ab, die in ihrer Nähe das Keimen anderer Bäume und sogar des eigenen Nachwuchses verhindern.
Wirklich, ich verdanke diesem einen Satz, den ich zufällig las, hochinteressante Stunden. Beispielsweise gibt es in Mexiko eine Akazien-Art, die gegen das Gefressenwerden ein solches Sicherheitssystem entwickelt hat, dass man sich diesen Bäumen nicht einmal nähern sollte. Sie haben nicht nur Dornen, sie halten sich auch eine spezielle Ameisenart als Security-Personal. Diese Ameisen töten jedes Insekt, dass sich ihrem Freund, dem Baum, egal in welcher Absicht nähert, ja, sie fallen sogar über Menschen her, welche die Nähe der Akazie suchen.
Aber warum? Wieso verteidigen sie die Akazie so? Weil die Pflanze den Tieren einen idealen Lebensraum bietet. In ausgehöhlten Dornen ziehen sie ihre Larven auf. Sie ernähren sich von Nektar, den die Akazie aus brunnenartigen Drüsen absondert, die an ihren Blättern sitzen. Auch wachsen an diesen Blättern kleine gelbe Kügelchen, Belt’sche Körperchen, welche die Tiere ernten. Zum Dank putzen sie den Baum sogar: Spinnweben, Staub, Pilzsporen – alles weg, weg, weg. Ja, es gibt auf Java einen Baum namens Macaranga triloba, der Ameisen ähnlich angenehme Lebensbedingungen bietet wie die Akazie, nur dass er sogar noch seine Blattstengel mit Spezialwachs beschichtet, auf dem sich nur Ameisen halten können. Alle anderen Insekten rutschen ab.
Wir Fachleute nennen diese Lebensgemeinschaft von Ameisen und Pflanzen übrigens Myrmekophylaxis, das nur nebenbei.
Jetzt bin ich 57. Ich glaube, die Zeit, die mir noch bleibt, werde ich der Akazienforschung widmen.
Illustration: Dirk Schmidt