Ich möchte nun das Giraffensyndrom erklären.
Es ist ja bald 25 Jahre her, dass die DDR zusammengestürzt ist wie ein von Nagekäfern zerfressenes Holzgebäude, und noch immer staunt man, dass die Stasi, die doch jeden Holzwurm und jeden Nichtholzwurm im Staatsgebälk rund um die Uhr ausforschen ließ, kein bisschen vom nahen Ende ahnte.
Auch wundert sich der Bürger, der sein Dasein von kostbaren Eurofightern, Marinehubschraubern und Raketenabwehrsystemen gut beschützt wähnte, dass niemand bemerkt zu haben scheint: All diese schönen und mit von unseren Mündern sauer abgespartem Geld bezahlten Dinge sind zwar da, aber in Wahrheit nicht benutzbar, sondern bloß kaputt.
Und drittens ist ein Rätsel, wie sich im Nahen Osten ein ganzes Mörderheer zusammenrotten konnte, ohne dass die amerikanischen und sonstigen Geheimdienste, die doch jede Mail und jedes Telefonat auf der ganze Welt aufmerksam analysieren, einen Mucks von sich gaben.
Dass also der Mensch immer wieder zwar lauter Bäume sieht, nicht aber den Wald - wie ist das möglich?
Vielleicht kann man das am Beispiel der Giraffe erklären.
Man sollte ja meinen, dieses schon auf Grund seiner Körpergröße gar nicht zu übersehende Tier sollte von den Zoologen der Welt bis ins letzte Genom ausgeforscht sein. Denn was kann es Schöneres geben, als ein Giraffenforscher zu sein und sich nach dem Frühstück den lieben langen Tag mit diesen eleganten und graziösen Tieren zu beschäftigen?! Doch: nein! Der New York Times war jetzt zu entnehmen, dass die Giraffe ganz im Gegenteil von der Wissenschaft komplett vernachlässigt wurde: Giraffen seien, sagt Julian Fennessy von der Giraffe Conservation Foundation in Namibia, »vergessene Riesentiere«.
Dem Löwen, den Elefanten, den Gnus, ja, noch dem letzten Zebra und der räudigsten Hyäne stiegen die Tierkundler in großem Eifer bis in die letzten Ecken der Savanne nach. Die Giraffe aber stand unbeachtet unter Affenbrotbäumen. Warum? Sie ist von unaufgeregtem Wesen. Der plötzliche Zorn der Rüsseltiere und das hysterische Geschrei der Affen sind ihr fremd. Auch ist sie seltsam geräuschlos. Trotz großem Maul und Riesenzunge gibt sie nur ein weiches Grummeln auf niedrigen, für den Menschen kaum hörbaren Frequenzen von sich, während noch das dumpfbackigste Rhinozeros jederzeit auf dem Nashorn die melancholischsten Serengeti-Traditionsmärsche spielen kann.
Nun aber sei die Giraffe plötzlich in Mode gekommen, lese ich in der New York Times. Man interessiert sich für sie. Misst ihren Blutdruck, der fünfmal höher als beim Menschen sein kann, was aber dem Körper nicht (wie eben beim Menschen) schadet, weil Giraffenvenenwände sehr dick sind. Untersucht die Signalgeschwindigkeit in ihren Nervenbahnen und stellt fest: Sie ist nicht höher als bei Ratten, weshalb Giraffen langsam reagieren, denn die Wege, die jedes Signal bei ihnen zurückzulegen hat, sind nun mal länger als bei der Ratte. Und erforscht die Größe ihrer Herzen; die sind nicht übermäßig voluminös, weshalb Giraffen nicht lange galoppieren können; der Kreislauf macht nicht mit. Nein, Giraffen sind nicht ’n bisschen doof, wie man lange dachte. Sie sind nur langsam.
Der wahre Grund, warum sich so lange niemand für dies alles wirklich interessierte, aber ist, so sagen die Giraffenfachleute jetzt, dieser hier: Gerade weil fast jeder die Giraffe mag und weil sie ein grundsympathisches Tier ist, dachten die meisten Jungzoologen, sie sei gewiss zur Gänze erforscht. Und wandten sich anderen Lebewesen zu. So kam es, dass ein unübersehbares Tier einfach übersehen wurde.
Und das ist eben das Giraffensyndrom: Das Unübersehbare wird übersehen, weil es unübersehbar ist.
Für die Giraffe selbst ist es übrigens kein Problem. Für den Menschen, wie man sieht, manchmal schon.
Illustration: Dirk Schmidt