Das Beste aus meinem Leben

Auf Lesereise (V und Schluss): Was ich überhaupt nicht leiden kann, das ist: wenn während meiner Lesung der Buchhändler gepfändet wird.Was diesen letzten Punkt angeht, erinnere ich mich an eine Lesung vor Kunden der Buchhandlung Wiehießsienoch in der Stadt Habvergessen: Dort saß ich schon an meinem Platz und las, als ich im Rücken des Publikums drei Herren das Geschäft betreten sah, sie machten den Eindruck einer Abordnung aus dem Rathaus oder sahen aus wie Vertreter des örtlichen Literatursponsors, aber zuhören wollten sie nicht, verwickelten stattdessen den Buchhändler in eine leise, doch erregte Diskussion – mehr sah ich nicht, denn ich musste ja lesen und konnte die Sache nicht verfolgen.Aber als ich fertig und das Publikum gegangen war, erklärte mir der Buchhändler, er sei gerade vom Gerichtsvollzieher gepfändet worden, habe sich nämlich vor Monaten von einer Freundin Geld geliehen, dann aber von dieser Freundin getrennt, fahrlässig, wie man nun sah, denn die Frau verlangte gekränkt ihr Geld zurück, und als sie es nicht bekam, ließ sie es über den Gerichtsvollzieher eintreiben. Der Buchhändler sagte, er sei – den Besuch des Vollziehers und seiner Schergen schon ahnend – noch so geistesgegenwärtig gewesen, meine Gage in einem Exemplar von Dan Browns neuestem Wälzer zu verbergen, eigentlich ein sehr geeignetes Geldversteck, aber diesen Trick habe der Gerichtsvollzieher offensichtlich gekannt, denn kaum habe er, der Buchhändler, das Geld dem Dan Brown entnommen, sei der Gerichtskassier schon wieder in der Tür gestanden und habe lächelnd auch dieses Geld eingetrieben.Jedenfalls musste ich dann den Buchhändler zum Essen einladen, er hatte nichts und niemanden mehr außer mir und seinen Büchern, nicht mal mehr eine Freundin.Übrigens führe ich seit einer Weile eine Liste der seltsamsten Orte, an denen ich je Lesungen hatte, wobei auf Platz eins die Lehrküche einer Volkshochschule in Hattingen an der Ruhr steht, sehr viele Hausfrauen standen dort um die Lehr-Herde der Küche herum, manche saßen sogar auf den Herdplatten, während ich las und in meinen Lesepausen ein Saxophonkünstler seinem Instrument Improvisationen à la »Sterbende Seekühe« entlockte. Platz zwei ist ein Einkaufszentrum in einer Münchner Vorstadt, zu dessen Eröffnung mich in meiner Frühzeit ein Einzelhändler gelockt hatte, damit ich aus meinen sehr frühen Kolumnen läse. Indes postierte er mich gleich hinter dem Eingang, wo niemand sich für mich interessierte, ich hätte sofort gehen müssen, unter Protest, »im Namen der Literatur, mein Herr!« Aber das tat ich nicht, ich gehorchte wie ein Idiot, ein Feigling, stand am Rand des Menschenstroms und laberte wie ein Vertreter für Kochtopfputzmittel in die Menge hinein, ein surreales Erlebnis, das ich für eine Weile mit dem kompletten Verlust meines Selbstbewusstseins, ja meiner Selbsterinnerung büßte. Wie ein Münchner Piano Man fuhr ich in die Stadt zurück und empfand es als Segen, vergessen zu haben, wer ich war und warum ich so tief hatte sinken können, ich, eine Bordsteinschwalbe der Literatur.Übrigens hat Péter Esterházy einmal beschrieben, wie er in Florenz eine Lesung hielt, auf Ungarisch, ohne Dolmetscher, so dass niemand im Saal ihn verstand, man nahm seine Lesung als eine Art moderner Musik, und Esterházy sagte hinterher, er habe das sehr genossen, denn »gar nicht verstanden zu werden, das ist beinahe dasselbe, wie wenn jemand ein großer hypnotischer Redner ist«, man spreche in eine Leere hinein, »in diese erwartungsvolle, hoffnungsfrohe Leere«, und das sei nun mal eben ein schönes Gefühl.Man kann ja das Publikum, wenn man will, durchaus als eine Art Gefangenen betrachten, nach dem Motto: So, nun seid ihr hier, selbst schuld, gehen könnt ihr nicht so einfach, das fällt auf, auch habt ihr ja bezahlt – jetzt müsst ihr das aushalten, was ich euch um die Ohren lese. Aber so ist es in der Regel nicht, man möchte gefallen, will gemocht werden, lauscht auf jede winzige Reaktion der Zuhörer, das ist eine Schwäche, aber es ist so, und natürlich führt es dazu, dass man Texte liest, die solche Reaktionen eher hervorrufen. Lustige Texte.Seltsamerweise setzen sich aber die Leute, die am wenigstens reagieren, immer in die erste Reihe – warum? Ich weiß es nicht. Einmal gab ich irgendwo in der Oberpfalz mein Bestes, ich las und las, die Leute hinten im Saal lachten, aber vorn in der ersten Reihe saß ein ernster Herr in Sakko und Krawatte. Nicht eine Miene verzog er, ich dachte schon, ist das wieder der Gerichtsvollzieher oder was? Ich begann, nur für ihn zu lesen, sah ihn an, holte meine witzigsten Texte hervor und aus mir selbst das Letzte heraus, machte mich zur Rampensau – nichts. Genoss er seine Macht? War er total humorlos? Hatte man ihm die Visage operiert? Resigniert schlich ich in die Garderobe, den Rest des Publikums nicht achtend, beherrscht von großem Versagensgefühl.Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, ging ich zum Büchertisch. Da stand der Mann, fünf Bücher unter dem Arm, alle wollte er signiert haben. »Herrlich war das«, sagte er. »Großartiger Abend! Habe mich schon lange nicht mehr so amüsiert.«Ich hätte ihn jetzt fragen können, warum er denn… Aber ich tat es nicht. Ich signierte einfach seine Bücher. Manche Dinge will ich einfach nicht verstehen.